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3. Erlebnisorientierte (Sonder-) Schule

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3.1. Bildungsplan

3.2 Unstetigkeit in der Erziehung
3.3 Aufgaben
3.4 Formen der Erlebnisorientierung
3.5 Die Täter

Der Bildungsplan für die Schule für Erziehungshilfe in Baden-Württemberg weist "Erlebnisorientierung" als einen wesentlichen Grundsatz der Unterrichtsgestaltung aus: "Erlebnisorientierung: Manche Formen des Schülerverhaltens stehen in einem engen Zusammenhang mit gravierenden Versagenserlebnissen und Enttäuschungen. Kinder und Jugendliche begeben sich in riskante Situationen und schaffen dramatische Zustände in der Absicht, die eigenen Grenzen und Möglichkeiten zu erfahren und in der Hoffnung auf Anerkennung. Um sich zu bewähren, schaffen sie sich ihre eigenen Herausforderungen. Das vitale Bedürfnis nach unmittelbarem, körperlichem und psychischem Erleben kann in einem überschaubaren und kontrollierbaren Rahmen positiv beeinflußt werden. In ereignishaften Situationen, durch elementare Handlungen und einfache Tätigkeiten in natürlichen Erlebnisräumen können das Interesse an Anstrengung und Leistung, aber auch der Sinn für gemeinschaftliches Handeln, Verantwortung und Selbsterziehung in veränderter Weise ihren Niederschlag finden und zugleich entwickelt werden."(Ministerium für Kultus ... 1996, S.15)

Der Begriff Erlebnispädagogik taucht hier nicht auf, obwohl der Text eindeutig die klassisch erlebnispädagogische Inszenierung von Ereignissen beschreibt. Ich habe ebenfalls den Begriff der Erlebnisorientierung (EO) aufgegriffen, weil ich mir für die Schule ein weiteres Blickfeld wünsche, als dies bisweilen in der EP zu finden ist. EP weist zwar, wie auch in dieser Arbeit gezeigt wurde, eine enorme Breite auf, es gibt aber Tendenzen, Definitionen zu finden, die EP deutlich vom Freizeitbereich abgrenzen. Dies scheint hilfreich für eine wissenschaftliche Präzisierung des Begriffes und wenn ich im folgenden den Begriff EP benutze, so impliziere ich damit jene enge Auslegung, welche die persönlichkeitsbildenden Aspekte in den Vordergrund stellt.

Für eine schulische Praxis scheint mir eine Ausweitung in Richtung Freizeit jedoch angeraten, da hier Möglichkeiten des Zugangs zu SchülerInnen, des Übergangs zu stärker klassisch ep orientierten Formen und der Fortführung nach dem Ende der Schulzeit geschaffen werden.

Die "Erlebnisorientierung" im Bildungsplan ist insofern etwas Beachtenswertes, als Schule üblicherweise das "vitale Bedürfnis" eher versucht zu entvitalisieren, als es zum Ausgangspunkt pädagogischen Wirkens zu machen. Schule macht sich damit ein stückweit auf den Weg in Richtung "Bedürfnisse" und lässt sich auf das Unterfangen ein, das Ereignis in eine ansonsten die Stetigkeit betonende Einrichtung zu holen.
 
 

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3.2. Unstetigkeit in der Erziehung

3.1 Bildungsplan
3.2 Unstetigkeit in der Erziehung
3.3 Aufgaben
3.4 Formen der Erlebnisorientierung
3.5 Die Täter
 

Bollnow (1965) hat die üblichen Formen der Pädagogik als "Stetigkeitspädagogik" bezeichnet, da sie davon ausgehen, dass die "allmähliche Vervollkommnung als die Grundform der menschlichen Entwicklung" (ebd. S. 18) anzusehen ist. Bollnow stellt jedoch fest, "daß es im menschlichen Leben neben stetigen Verläufen eben auch solche unstetigen Stellen gibt, die es von Zeit zu Zeit in einer besonderen Weise unterbrechen" (ebd. S. 21) und es in besonderer Weise prägen. Er sucht daher nach Wegen, wie sich Pädagogik dazu verhalten könne. Sie hat demnach die Aufgabe, solche Stellen im Leben von SchülerInnen bewusst wahrzunehmen, sie darauf vorzubereiten und ihnen in den entscheidenden Momenten nahe zu sein.

Die Betonung von "unstetigen Stellen" im Leben mag zu Bollnows Zeiten etwas Besonderes gewesen sein, heutzutage reden wir oft von "Brüchen" und "brüchigen Lebensentwürfen" etc. als DAS Kennzeichen unserer Epoche. Trägt eine moderne Pädagogik dem Rechnung?

Güntner (1994, a) stellt einen Bezug von EP zu Bollnow her und schreibt: "... vielfach sind erlebnispädagogische Unternehmungen eine Abfolge von wechselnden Krisen, ganz bewußt herbeigeführt bzw. gestaltet, um Erschütterungen und damit Neuorientierung bei ihren Schützlingen auszulösen". (ebd. S. 30)

Bollnow hätte ein solches Unterfangen der Kriseninszenierung für verantwortungslos gehalten oder aber – und das scheint mir naheliegender – es handelt sich bei den Inszenierungen der Erlebnispädagogik eben nicht um Krisen im existenziellen Sinne, wie sie Bollnow im Blick hatte. Aber EP gab es ja auch schon zu Bollnows Zeiten und vielleicht waren für ihn die Erlebnispädagogen doch mehr die Abenteurer: "Der Abenteurer sucht die Gefahr und genießt sie als besonderen Reiz. Er wagt alles, aber nicht um des Zieles, sondern um dieses Reizes willen." Die abenteuernden Erzieher "sind diejenigen, die sich an ihrem Einfluß auf die Jugend berauschen und die ihnen anvertrauten Jüngeren in eine Gefährdung hineintreiben, der sie vielleicht gar nicht gewachsen sind." (ebd. S. 139)

Vermutlich liegt EP genau zwischen "Ziel" und "Reiz", zwischen geplanter Zukunft und gelebter Gegenwart, und gerade das macht sie so attraktiv. Und schließlich wissen wir seit Schleiermacher, dass die Gegenwart nicht ausschließlich einer (zunehmend unsicheren) Zukunft aufgeopfert werden darf. Und dass Pädagogik immer auch Wagnis bedeutet, wissen wir seit Herbart, der der Meinung war, "Knaben" müssten "gewagt" werden:

Auf alle Fälle ist es Wesen der EP ein besonderes Erlebnis zu sein. Vielfach wird davon gesprochen, dass bei EP-Aktionen ein sogenanntes "Flow-Erlebnis" entstehen kann. Mit Flow beschreibt Csikszentmihalyi (1992) ein (Glücks-) Gefühl, das sich bei bestimmten herausfordernden Situationen einstellen kann, in denen Handeln und Bewusstsein eins sind, wo man voll und ganz auf die Situation konzentriert ist und wo sich das Gefühl für die Zeit verändert. Paradebeispiel ist bei ihm des öfteren der Kletterer. Diese Konzentration auf die Situation, das Aufgehen in ihr ("Er ist hundert Prozent Kletterer, sonst würde er nicht überleben"), führt bis zu einem Verlust des Selbstgefühls: "Beim Flow gibt es keinen Raum für Selbsterforschung". Dies ist kein Verlust des Bewusstseins sondern der "Bewußtheit von sich selbst": "Wenn man nicht mit sich selbst befasst ist, hat man in der Tat die Möglichkeit, die Vorstellung dessen, was man ist, auszuweiten." (ebd. S. 28f)

Ringendahl (1998) geht der Frage nach, was Menschen dazu treibt "die Berge hinauf(zu)keuchen", um dann am Abend "im Matratzenlager zufrieden eine der staubigen Decken über den Kopf" zu ziehen. Sie zitiert den Soziologen Gronemeyer : "Vielleicht machen Menschen am Berg häufig unbewußt die zentrale Erfahrung, die allen Religionen zugrunde liegt. Daß nämlich wirkliche Tiefe nur in der Erfahrung der Entleerung möglich ist." Diese Erfahrung wirke als "edler Rausch".

"Edler Rausch", "Glück durch Herausforderung", mit solchen Schlagworten lässt sich die Anziehungskraft des Erlebnisses, des Abenteuers andeuten.

Das Besondere als Ausgangspunkt von Pädagogik ist jedoch bei weitem nicht in dem Maße üblich, wie dies die Anforderungen einer modernen Gesellschaft nahelegen. Es ist also zu fragen wie eine erlebnisorientierte Schule dazu beiträgt und welche Aufgaben sie zu erfüllen hat, wenn sie den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen will.
 

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3.3. Aufgaben

3.1 Bildungsplan
3.2 Unstetigkeit in der Erziehung
3.3 Aufgaben
3.4 Formen der Erlebnisorientierung
3.5 Die Täter
 

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3.3.1. Strategien des Risikohandlings vermitteln.

3.3 Aufgaben
3.3.1 Strategien des Risikohandlings vermitteln.
3.3.2 Lebensweltbezüge herstellen.
3.3.3 Anschluss an Teilsysteme sichern.
3.3.4 Die Menschen stärken.
3.3.5 Umgang mit Reflexions- und Interpretationswissen

In einer Gesellschaft, die zunehmend unsichere Zukunft produziert, in der lineare Lebensläufe zur Seltenheit werden, hat Schule auf eine solche Situation vorzubereiten.

Seit Ulrich Beck (1986) wissen wir, dass wir in einer "Risikogesellschaft" leben und wir wissen auch, dass Jugendliche, die eine Sonderschule besuchen, dieses Risiko meist in Form seiner negativen Folgen zu spüren bekommen, dass sie zu den "Modernisierungsverlierern" gehören. Individualisierung und Pluralisierung lässt alte Lebensmuster errodieren und zwingt zu riskanten Entscheidungen. Die Entscheidungsmöglichkeiten wachsen, die Gesellschaft wird zur "Multioptionsgesellschaft" so Peter Gross (1996). Doch Gerhard Schulze (1992) hat in seiner "Erlebnisgesellschaft" aufgezeigt, dass die Individualisierung nicht etwa eine Gesellschaftstruktur produziert "als Kuddelmuddel versprengter Individuen, sondern als Gefüge kaum mehr konkurrierender, sondern weitgehend auf das eigene milieuspezifische "Erleben" konzentrierter Großgruppen", als "relativ homogene soziale Milieus, die sich nach Bildungsgrad, Generationszugehörigkeit, fundamentaler Sinnorientierung und Lebensstil unterscheiden lassen" so der ZEIT-Autor Andreas Kuhlmann (1992). Damit wird deutlich, dass lediglich die Kategorie "Generationszugehörigkeit" quer zu den klassischen Sozialmilieus liegt, was allerdings zunächst keine neuen Verbindungen schafft, sondern lediglich die Verbindungen zwischen den Generationen eines Sozialmilieus gefährdet. An den gesellschaftlichen Schichtungen hat sich also gar nicht so viel geändert, wie manch einer glauben macht.

Dennoch wird Identitätsbildung entlang kollektiver Deutungsmuster, wie z.B. die "Klasse" zusehends unmöglich, zu offensichtlich ist die Brüchigkeit der "großen Erzählungen". Identitätsbildung wird mehr und mehr zur Aufgabe jedes Einzelnen. Heiner Keupp (1989) spricht in diesem Zusammenhang von der "Patchwork-Identität", die als eine individuelle Lebenscollage zu bewerkstelligen ist. Individuell ist dabei jedoch nur die Zusammenstellung, die "Rohstoffe" sind vorgegeben. "Jeder erfindet im Laufe seines Lebens eine Geschichte, von der er meint, es sei seine eigene", sagt Hiller gern an dieser Stelle. Die Menge der "Rohstoffe", also die Wahlmöglichkeiten des Individuums, hängen wiederum entscheidend vom sozio-ökonomischen Status einer Person ab. Heiner Keupp resümiert daher pessimistisch: "Identitätsarbeit unter Bedingungen gesellschaftlicher Marginalisierung und wachsender persönlicher Demoralisierung wird zu keinen hoffnungsvollen und produktiven Identitätsentwürfen führen" (Keupp 1989, S.66).

Mit einem solchen Schlusswort dürfen sich Sonderpädagogen natürlich nicht zufrieden geben. Aufgabe von PädagogInnen muss vielmehr der Umgang mit Pluralität, mit offenen Situationen, mit dem Risiko werden. EP bietet hierfür ein gutes Feld: Sich in unsichere Situationen zu begeben, sie zu bestehen, ja Freude zu empfinden, bietet eine Kontrasterfahrung zur gängigen schulischen Praxis und zu Alltagserfahrungen.

Mit Zuversicht in eine gefährliche Zukunft schauen – das wäre eine gutes Ziel für eine moderne, erlebnisorientierte Schule.

Dieser Zusammenhang wird auch verschiedentlich von (Erlebnis-) Pädagogen thematisiert. Michael Klein (1996) spricht von "Thrill-Pädagogik", welche zwischen Prävention, Sozialtherapie und Sozialpädagogik angesiedelt sei. Sie habe vor allem den Jugendlichen etwas zu bieten, die sich gefährliche Formen des Risiko- und Abenteuerverhaltens angeeignet haben, bei denen dieses Verhalten Teil einer kollektiven Lebenspraxis sei und der Konstruktion von Identität, wie auch der öffentlichen Präsentation einer solchermaßen erfolgreichen Identitätsbildung diene.

Peter Becker (1994) geht davon aus, dass EP-Arrangements dazu beitragen, "Momente eines Selbstbildes erfahrbar zu machen, die sich als Vertrauen in die eigene Kompetenz, als Gelassenheit bei emotionalen Widerständen, als realistische Kontrollmeinung und Zukunftszuversicht beschreiben ließen." (ebd. S. 214) Das Abenteuer "erscheint als ein optimales Lernmodell für die Bewältigung der Anforderungen der modernen Gesellschaft.... Das Abenteuer präsentiert den Prototyp der gesellschaftlichen Grundsituation einer individualisierten Risikoübernahme." (ebd. S. 210f) EP-Arrangements bilden das "Abenteuer Risikogesellschaft" als "kleines Bewegungsabenteuer" nach. Die Komplexität ist jedoch relativ gering, die Überschaubarkeit bleibt gewährleistet, die Wirksamkeit des eigenen Handelns ist unmittelbar erfahrbar. Der "zwanglose Sachzwang" der Situation übernimmt dabei eine gehörige Portion der Erziehungsleistung. Jugendliche können einen Kontroll- und Kompetenzoptimismus erwerben, obwohl dieser auch in eine Kontrollillusion umschlagen kann. Last but not least weist Becker darauf hin, dass auch die Mitteilung des Erlebten, die Erzählung Teil des Abenteuers ist. Hier entstehen "Chancen einer Selbstversicherung und Selbstaufklärung, in denen die gemachten Erfahrungen mit der offenen Zukunft und den riskanten Entscheidungen in der Biographie verortet werden können." (ebd. S. 214)

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Frage schlechter gesellschaftlicher Chancenverteilung ist und bleibt eine sozialpolitische. EP kann lediglich "Entlastung" und "Entdramatisierung" leisten (Thiersch 1993). Auch wenn Jugendliche für den Umgang mit dem Risiko geschult werden, so ist dies nicht zu verwechseln mit einem Abschieben von Verantwortlichkeit für strukturelle Bedingungen auf den Einzelnen.

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3.3.2. Lebensweltbezüge herstellen.

3.3 Aufgaben
3.3.1 Strategien des Risikohandlings vermitteln.
3.3.2 Lebensweltbezüge herstellen.
3.3.3 Anschluss an Teilsysteme sichern.
3.3.4 Die Menschen stärken.
3.3.5 Umgang mit Reflexions- und Interpretationswissen

Lebenswelten basieren auf "Verhaltenstraditionen, religiösen Wertdeutungen und sozialmoralischen Milieus, in denen die Individuen kommunikativ ihre Erfahrungshorizonte aufbauen, ihre Alltagspraxis gestalten, Identität gewinnen und über den Sinn des Lebens sich verständigen". (Hiller 1994, b, S.161)

Das Interesse für die Lebenswelten, die Lebenslagen, die Wege und die Geschichten von SchülerInnen muss Ausgangspunkt von Unterricht sein, will Schule "Anschluss" an ihre Schülerschaft gewinnen. Schule soll zudem "Kindern und Jugendlichen ausreichend Chancen zuspielen ... , damit diese ... an der Gestaltung von Lebenswelten produktiv mitwirken können". (ebd.)

Anschluss an Lebenswelten hat also in doppelter Weise zu geschehen: Zum einen in der Auseinandersetzung mit dem, was SchülerInnen an Alltagserfahrungen, an kulturellen und ethnischen Prägungen mitbringen, mit dem was SchülerInnen bewegt, mit ihren Geschichten. Zum anderen geht es um eine Zukunftsorientierung, geht es um Identitätssuche aber auch darum, SchülerInnen für einen nachschulischen und außerfamilialen Alltag fit zu machen, ihnen Techniken zur Lebensbewältigung zu vermitteln.

Bezogen auf das erste Aufgabenfeld hilft Erlebnisorientierung der Schule, einen Rahmen zu erzeugen, in dem ein intensiver und persönlicher Austausch über diese Dinge zustande kommen kann. Es werden Beziehungen unter SchülerInnen und zwischen SchülerInnen und LehrerInnen geschaffen, wie dies im normalen Schulalltag weder in Quantität noch in Qualität zu bewerkstelligen sein wird. Güntner hatte ja im Interview darauf hingewiesen, dass EP in der Beziehungsgestaltung eine der "kompetentesten und potentesten Methoden" sei.

Mollenhauer und Uhlendorff (1992) haben dargelegt, wie "Tätigkeiten" im Rahmen von EP-Aktionen "Lebensthemen" zur Sprache bringen, wie also über das Handeln in konkreten Situationen ein Zugang zu zentralen Einstellungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen gefunden werden kann. (Die Probleme, die sich hier bisweilen offenbaren, sehen die Autoren jedoch nicht in den Lebensthemen selber begründet, sondern in den Tätigkeitsgestalten, in denen sie sich äußern.) Der Zugang zu den Lebensthemen ist hier ein "leiblicher", die Auseinandersetzung nimmt ihren Ausgangspunkt in der "Sphäre der Zwischenleiblichkeit". In Tätigkeiten gibt es eine "gesteigerte Selbstwahrnehmung" in Form von "leibhaft-tätigem Erinnern". "Selbstentwürfe" stellen sich damit auch als "sinnlich lebhafte Vorgänge" dar und sind selbst in "allertrivialsten Verrichtungen" enthalten. Tätigkeiten können Jugendlichen somit helfen, "sich latente Konflikte zu vergegenwärtigen". (ebd. S. 71f)

Bei der Untersuchung der Autoren handelte es sich um Jugendliche mit besonders gravierenden Verhaltensproblematiken, weshalb das Augenmerk bisweilen auf diesen Problemen und Konflikten liegt. Allgemeiner gesprochen ließe sich sagen, dass leibnahe Tätigkeiten dazu verhelfen können, sich die latenten Strategien zur Lösung von Problemen und zur Bewältigung von Herausforderungen zu vergegenwärtigen. Solche Strategien sind wiederum wesentlich geprägt durch die biographischen Erfahrungen und den lebensweltlichen Hintergrund. In gemeinschaftlichen Erlebnissituationen kann die Vielfältigkeit der unterschiedlichen Strategien zum Tragen kommen, ein gegenseitiges Verständnis entstehen. Es können aber auch fremde und ungewohnte Strategien kennengelernt und erprobt und so die eigenen Möglichkeiten erweitert werden.

Bezogen auf das zweite Aufgabenfeld können erlebnisorientierte Aktivitäten zum einen ganz praktischen Nutzwert haben. Der Selbstversorgungsaspekt bei Schullandheimfahrten wird in einer eo Schule (neben finanziellen Vorteilen) als Lernfeld für einen selbstständig zu bewältigenden Alltag betrachtet. Hier können Kinder und Jugendliche konkrete hauswirtschaftliche Tätigkeiten lernen - ausländische Mädchen erweisen sich hier häufig als kompetente Anleiterinnen. Der Kompetenztransfer und die Organisation dieser Arbeiten in einem Zwangskollektiv stellt zudem hohe Anforderungen an die kommunikativen Fähigkeiten.

Werden solche Fahrten mehrmals hintereinander durchgeführt, so ist eine Steigerung der Autonomie in Sachen Organisation und Selbstversorgung möglich: Lebensmittelbedarf vorkalkulieren und besorgen, Verkehrsmittel organisieren, benötigte Materialien für Aktionen und Spiele zusammenstellen etc..

Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Unterstützung bei der Entwicklung von Lebensperspektiven junger Menschen, die an der Schwelle zum Erwachsensein stehen. Nur ist diese "Schwelle" kaum noch als eine solche wahrzunehmen. Es wird immer unklarer, wann man denn nun wirklich "erwachsen" wird. Schulze (1992) geht davon aus, dass "Jugend" immer weniger als befristete Statuspassage verstanden werden kann, sondern mit steigender Tendenz als eine langfristige Existenzform, in der Spontaneität das entscheidende Entwicklungsziel ist. So dehnt sich "Jugendlichkeit" aus bis etwa zum 40. Geburtstag. Die von ihm beschriebenen Sozialmilieus der "Jugend" liegen dann auch konsequenterweise in der Zeitspanne bis zu 40 Jahren. Dass dieser biographischen Ausweitung von Jugendlichkeit das Verschwimmen der "Zielperspektive Erwachsensein" gegenübersteht, liegt auf der Hand. Trotz der Perspektive der "ewigen Jugend" verlangt die Gesellschaft von ihren junggebliebenen Erwachsenen, dass sie den Alltag und das Berufsleben mit den erwachsenentypischen Fähigkeiten und Verbindlichkeiten zu gestalten in der Lage sind.

Auch praktiziert unsere Gesellschaft keine Übergangsrituale, wie sie in Naturvölkern üblich sind, mit denen dieser Übergang deutlich und öffentlich markiert wird. Jugendliche inszenieren daher oft selber solche Rituale, nicht alle Formen sind dabei selbst- und gesellschaftsverträglich. "Mehr denn je wird heute die hohe Bedeutung von Ritualen als Erfordernis für physische und soziale "Gesundheit" deutlich, als psychische Notwendigkeit in der "Wüste des Alltags" zur symbolischen Dramaturgie des Lebens, zur Strukturierung und Rhythmisierung von Zeit, zum Erfahren von Stabilität, Kontinuität und Zugehörigkeit und zu Sättigung des Verlangens nach Einmaligem und Bedeutungsvollem angesichts des Einerleis und der Beliebigkeit des Alltags. Dort, wo es an tragfähigen Ritualen fehlt, erfinden Jugendliche die Rituale selbst."(Klein 1996, S. 380)

Hiller (1994, a) erwähnt in diesem Zusammenhang die Gran Aventura, das große Abenteuer, in Bemposta, wie von Möbius (1973) beschrieben. Es handelt sich dabei um ein Ausbildungsjahr, für über fünfzehn jährige Jungen, welches verschiedene Stationen beinhaltet: Aufenthalt in einem alten Bergkloster, Hilfspfleger im Krankenhaus, Mithilfe bei Atlantikfischern oder im eingeschneiten Bergdorf, Gefangener im Jugendgefängnis, Zusammenarbeit mit einem Jugendpfleger in einem Slum, Dorf- und Straßenbettel, Arbeit als Schiffsreiniger oder als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle. Hiller denkt über Analogien für eine moderne Form der Initiation in die Gesellschaft nach. Folgende seiner Ideen stünden auch einer eo Schule gut zu Gesicht.

Gilsdorf (1996) berichtet von einer Schule in Colorado, in der nach einem Modell des "Walkabout" gearbeitet wird. Unter dem Eindruck des "Walkabaut"-Ritus der Aborigines veröffentlicht Maurice Gibbons 1974 ein Konzept der "Passages" - Passagen auf dem Weg ins Erwachsenenalter - um so einen symbolträchtigen Übergang zu schaffen. In Anlehnung an dieses Konzept gibt es an der Jefferson County Open High School in Lakewood (sie nimmt v.a. SchülerInnen auf, die an anderen Schulen gescheitert sind oder solche für sich als unpassend ansehen) sechs "Passages". Eine davon ist das Abenteuer, hier soll "der eigene Mut, die eigene Ausdauer und die eigenen Fähigkeiten in ungewöhnlichen Situationen mit offenem Ausgang auf die Probe" gestellt werden. Alle Passage-Arbeiten müssen vier Qualitätskriterien genügen: Sie müssen von der SchülerIn initiiert sein, erfahrungsorientiert (incl. Abschlussbericht), geplant und intensiv sein. "Die Passages fordern die Schüler auf, an ihre Grenzen zu gehen und neue Möglichkeiten in einem intensiven Erfahrungsprozeß mit hohem Einsatz zu erschließen". (ebd. S. 31)

"Wilderness-trips" spielen eine wichtige Rolle in der Schule. Begonnen wird mit recht eng geführten Unternehmungen, die dann im Lauf der Jahre zunehmend stärker von den SchülerInnen mitgestaltet werden, bis hin zur völlig selbstständigen Organisation des Abschlusstrips.

Die Umsetzung der Idee der Schaffung eines rituellen Übergangs mit Hilfe von Abenteuer für junge Menschen, die die Schule verlassen und in das Feld beruflicher Tätigkeiten wechseln, könnte ich mir an einer eo Schule als gute Ergänzung zu Betriebs- (und Gemeinwesen-) Praktika vorstellen.
 

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3.3.3. Anschluss an Teilsysteme sichern.

3.3 Aufgaben
3.3.1 Strategien des Risikohandlings vermitteln.
3.3.2 Lebensweltbezüge herstellen.
3.3.3 Anschluss an Teilsysteme sichern.
3.3.4 Die Menschen stärken.
3.3.5 Umgang mit Reflexions- und Interpretationswissen

SchülerInnen zu helfen in abnehmenden Systemen Fuß zu fassen, gehört zu den zentralen Aufgaben von Schule. "Es stellt sich die Frage, welche allgemeinen und spezifischen Bestände an Wissen und Fertigkeiten in welchen Teilsystemen von Nutzen sind, und was Schule dann davon wie und wo vermitteln soll" (Hiller 1994, b, S. 163). "Asymmetrien", "blinde Flecken" und "Modernitätsrückstände" müssen behoben werden (ebd. S. 164).

So manches mehr als dies bis heute üblich ist, könnte in der Schule gelernt werden, was im "echten" Leben von Nutzen sein kann. Dazu gehört auch, zumindest aus Sicht von Arbeitgebern, der Erwerb von Schlüsselqualifikation. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass dies von einer "Entwicklung persönlicher Kräfte" deutlich zu unterscheiden ist, auch wenn viele LehrerInnen schon dachten, Wirtschaft und Industrie hätten "endlich begriffen" und sich deshalb von dem Schlüsselqualifikationskonzept begeistern ließen.

Götz (1997) bemerkt hierzu: "das Ziel [von Schlüsselqualifikationen] ist vorweg definiert: nämlich die Wahrung der Verwertungsinteressen der Wirtschaft" (ebd. S. 10). Geissler (1990) befürchtet gar den "Tod des Subjekts", denn: "Im Schlüsselqualifikationskonzept kommt der einzelne nicht mehr vor - bzw. nur als potentieller Träger von verwertbarer Arbeitsleistung" (ebd. S.35). Schlüsselqualifikationen bezeichnen also die Zurichtung der Individuen, ihres Verhaltens, ihres Charakters auf die Ansprüche eines zunehmend auf Flexibilität setzenden Beschäftigungssystems. Sennet (1998) hat eindrücklich beschrieben, wie das Leben von solchermaßen flexiblen Menschen in Oberflächlichkeit und Kontrollverlust abgleiten kann.

Doch das Jammern hilft nicht weiter: Wer nicht bereit ist sich verwerten zu lassen, der wird keinen Anschluss an das Beschäftigungsystem finden. "Zurichtung" und "Entfaltung" sind also die Pole einer Dialektik, in die hinein Schule ihre Angebote plazieren muss.

Es gibt eine Reihe von ep Angeboten, die die Vermittlung von SQ explizit als Ziel benennen. In zahlreichen Ausbildungsberufen aber auch im Bereich von Managerfortbildungen sind solche Angebote Bestandteil des Curriculums geworden. Auf benachteiligte junge Erwachsene zielt das BPJ, das Berufspraktische Jahr in Baden-Württemberg. Ziel dieses Programmes, das als gemeinsame Aktion der Arbeitsverwaltung und des Bildungswerkes der baden-württembergischen Wirtschaft ins Leben gerufen wurde, ist die berufliche Integration, was in der Praxis in der Regel Abschluss eines Ausbildungsvertrages bedeutet. Regelmäßig findet an 4 Tagen pro Woche ein Praktikum im Betrieb statt, ein Tag ist Seminartag. Zusätzlich gibt es mehrere geblockte Einheiten, eine davon ist eine 8-tägige erlebnispädagogische Veranstaltung. Die Teilnahme daran ist obligatorisch und wird ausführlich vor- und nachbereitet. Im alltagsfernen Feld soll ausprobiert werden können, was es bedeutet, etwas durchzuhalten, sich zu überwinden, sich auf Neues einzulassen. Es soll gelernt werden, im Team zu arbeiten und zu einer realistischen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten zu gelangen. In der Transferphase sollen dann die neuen Erfahrungen auch für alltägliche Situationen nutzbar gemacht werden. (Czech, Nagel 1994)

Doch Schule muss neben dem Beschäftigungssystem auch andere Teilsysteme ins Blickfeld bekommen. So trainieren z.B. die SchülerInnen von Altingen mit Schülerversammlungen Demokratie und das Leben in der "Polis", wie es bei Hartmut von Hentig (1991, a) heißt. Eine Vielzahl eo Aktionen werden als Gruppenaufgaben inszeniert, die das Formulieren eigener Ideen, das Treffen von Absprachen und das Aushandeln gemeinsamer Lösungen erfordern. Dabei geht es um das Klären einer gemeinsamen Sache und nicht um Gruppendynamik als Selbstzweck.

Eine eo Schule wird ein großes Gewicht auf das Entstehen einer solidarischen Gemeinschaftkultur der Vielfalt legen und sich damit deutlich von den Konkurrenz- und Vereinzelungstendenzen des üblichen Schulbetriebes abheben.
 

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3.3.4. Die Menschen stärken.

3.3 Aufgaben
3.3.1 Strategien des Risikohandlings vermitteln.
3.3.2 Lebensweltbezüge herstellen.
3.3.3 Anschluss an Teilsysteme sichern.
3.3.4 Die Menschen stärken.
3.3.5 Umgang mit Reflexions- und Interpretationswissen

Nicht erst seit Hartmut von Hentig (1991, a) wichtig. Durch ihre reformpädagogischen Wurzeln, ist dieser Bereich überdurchschnittlich stark in der EP thematisiert worden. Zu starken Persönlichkeiten in einem sozialen Kontext mit einem positiven Bezug zur Umwelt, zur "Mitwelt", werden, ließe sich als zentrales Ziel formulieren. Die Akzentuierung des Leiblichen und des Affektiven stellt hierbei einen Gegenpol zur Überbetonung des Intellekts in der Schule dar.

Sich selber zu erfahren, sich als wirksam zu erleben, soll das Selbstwertgefühl steigern und die Basis für Selbstvertrauen und –achtung stärken. Sich mit anderen zu erleben, von und miteinander lernen, sich gemeinsam freuen, sich zusammengehörig fühlen, Vertrauen und Unterstützung erfahren, sich kommunikativ austauschen, zu kooperieren und Rücksicht zu nehmen, fördert soziales Lernen. Die "Mitwelt" zu erleben, die Sinne zu öffnen und wahrzunehmen, das Gefühl haben, zur Natur dazuzugehören, kann helfen, einen Sinn für Schönes zu entwickeln und das Verhalten gegenüber der "Umwelt" zu modifizieren. (vgl. albErgo o.J., a)

Zöge man noch etliche andere Autoren hinzu, ließe sich die Liste der Ziele fast bis ins Unendliche verlängern, obwohl ich bezweifle, dass noch fundamental andere Gesichtspunkte dazukämen. An dieser Stelle beschleicht einen gelegentlich das Gefühl, hier würden kaum einzulösende Versprechungen gemacht und die Erwartungen sehr hoch geschraubt. Vielleicht ließe sich dem dadurch begegnen, dass man die entsprechenden Inszenierungen als Gelegenheiten betrachtet, in denen sich solche Ziele besser erreichen lassen als im üblichen Schulbetrieb ohne jedoch ein Versprechen einzugehen, dass solche Ziele auch tatsächlich erreicht werden. Ich denke dem könnte jede ErlebnispädagogIn zustimmen.

Zur Entwicklung persönlicher Kräfte hält Hiller (1994, b) drei Aspekte für bedeutsam: 1. vollziehe sich die "Ausbildung und Kultivierung körperlicher, seelischer und geistiger Dispositionen und Energien ... in zwei unterschiedlichen Aktions- und Zeitmustern, die aufeinander in plausiblen Rhythmen abzustimmen sind: als Kultivierung von Routinen und als Inszenierung herausgehobener Ereignisse und Vorhaben." Zum 2. seien hierbei Schulen "gut beraten, ... wenn sie mit nichtschulischen Einrichtungen und Experten kooperieren und zumindest ihre Projekte hauptsächlich an Lernorten außerhalb der Schule verwirklichen". (ebd. S.169) Hierbei "wäre zweckmäßigerweise daraufhin genauer zu prüfen, ob die Schülerinnen und Schüler im Zuge der Durchführung solcher Vorhaben Anschluß an jene außerschulischen Initiativgruppen und Einrichtungen finden, in denen sie fortan mitarbeiten können, weit über die zwangsläufig eng gezogenen Grenzen der schulisch initiierten Projekte hinaus" (ebd. S.170). Zum dritten konstatiert Hiller mit von Hentig ein Übermaß des "Nichtgebrauchtwerdens". Schule solle es sich daher zur Aufgabe machen, "in ihrem Bereich gezielt ernsthafte Betätigungsfelder für ihre Schüler aufzuspüren und wo nötig deren Schaffung einzufordern." (ebd. S.172 )

Es liegt auf der Hand, dass eo Unternehmungen herausgehobene Ereignisse im Sinne des ersten Punktes liefern können. SchülerInnen können angeregt werden, sich überhaupt erst auf solche Ereignisse einzulassen, zu prüfen, ob das Gefühl dabei zu sein ein anderes ist, als vom Fernsehsessel aus zuzuschauen, und es kann versucht werden, die Ereignissüchtigen in Bahnen zu lenken, die selbst- und gesellschaftsverträglich sind, ohne gleichzeitig die Lust auf Action und Abenteuer zu verdammen. Es können zudem Anstöße gegeben, Erfahrungen gesammelt und Techniken erlernt werden, wie solche Ereignisse selber inszeniert werden können. Dass man dafür die Schule besser verlässt, sollte denen nahegelegt werden, die versuchen, das Ereignis so weit zu zähmen, dass es sich in der Turnhalle oder dem Schulhaus unterbringen lässt.

Doch nicht nur im Gegensatz zu eo Aktionen spielt die Routine eine Rolle, auch innerhalb eines solchen Settings geht es um das Herstellen von Sicherheit und Verlässlichkeit durch Erlernen und Einüben der notwendigen Techniken und Sicherheitsmaßnahmen.

Die Frage des "Nichtgebrauchtwerdens" war vermutlich die stärkste Motivation für Kurt Hahn (o. J.) sein Konzept der Erlebnistherapie zu entwickeln. Sein Motto: "Sich bewähren in Ernstsituationen" galt nicht nur auf Touren und Expeditionen, sondern drückte sich auch in der Ausbildung zum "Rettungsdienst" aus. Dem Gedanken des "Rettungsdienstes" , sei dies die Feuerwehr, die Bergwacht, die Seenotrettung oder Ähnliches, als eine spannende und herausfordernde, dem Gemeinwohl dienende und in zeitlicher Perspektive über die Schule hinausreichende Veranstaltung, sollte eine eo Schule nachgehen.
 

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3.3.5. Umgang mit Reflexions- und Interpretationswissen

3.3 Aufgaben
3.3.1 Strategien des Risikohandlings vermitteln.
3.3.2 Lebensweltbezüge herstellen.
3.3.3 Anschluss an Teilsysteme sichern.
3.3.4 Die Menschen stärken.
3.3.5 Umgang mit Reflexions- und Interpretationswissen

Dieses ebenfalls von Hiller (1994, b) genannte Aufgabenfeld soll SchülerInnen zu einem reflexiven Verhältnis zu sich und zu den Verhältnissen bringen.

Die Selbstreflexion und die Reflexion der Gruppenprozesse ist ein zentraler Pfeiler von EP. Hierfür Formen zu finden, die Anschluss an Art und Weise jugendlicher Ausdrucksformen herstellt, ist eine noch unzureichend gelöste Aufgabe. Diese Aufgabe ist "schwierig vor allem auch angesichts der Tatsache, daß in Projekten ja häufig Heranwachsende beteiligt sind, die aus ihren bisherigen Erfahrungen heraus über keine elaborierten Formen des Verstehens und Redens verfügen; die Aufgabe ist heikel, weil sich gerade hier auch leicht unangemessenen Formen der Pädagogisierung anbieten" (Thiersch 1993, S.50). Eine bestimmte Fraktion verzichtet gänzlich auf Reflexion, das "Nichtreden (wird) zur Tugend hochstilisiert" (ebd.). Eine andere nötigt Jugendliche zu Reflexionsrunden, in denen Jugendliche v.a. zeigen können, wie gut sie erahnen, was PädagogInnen hören wollen. Den Grund für diese Schwierigkeiten sieht Bühler (1986) in einer kulturspezifischen Barriere, nämlich in einer weitgehend verinnerlichten "Arbeit-Spiel-Dichotomie", die sich in der Zweiteilung des Lebens in Arbeit/Unterricht/Alltag und Freizeit/Urlaub/Ferien ausdrückt". (ebd. S.73) Bezogen auf EP-Arrangements bedeutet dies: Die Aktion wird als Freizeit, als Spiel angesehen, die Reflexion steht für Arbeit, für Schule.

Dennoch bietet EP jenseits von Schulaufsatz und Morgenkreis Reflektionsmethoden an, die einerseits eine solche Breite besitzen, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Methoden für sich entdecken können, und die andererseits in einen Prozess eingebunden sind, der konkrete Schlussfolgerungen zum Ziel hat und eben nicht bloß um seiner selbst Willen geschieht. Die amerikanischen ErlebnispädagogInnen fassen dies kurz: what? – was ist genau geschehen – so what? – was hat dies (im Inneren) ausgelöst – now what? – was willst du nun damit machen, was sind deine nächsten Aufgaben? So werden junge Menschen praktisch geschult, Situationen zu reflektieren und Probleme (untereinander) konstruktiv zu lösen.

Ansonsten sind eo Settings besondere Ereignisse, über die zu berichten sich lohnt z.B. durch die Erstellung eines Videofilms, einer Zeitung, einer Ausstellung, eines Theaterstücks zum Thema. So kann eine kritische Distanz zu Formen der Herstellung und Verarbeitung eines solchen Wissens erworben werden. Ein kurzes Beispiel von der Nachbereitung der preisgekrönten Korsikafahrt 1992 des Waisenheimes Esslingen: "Unmittelbar während und nach der ersten Sichtung des gesamten Filmmaterials [4 1/2 Stunden] wurde für einzelne Szenen plädiert, gefeilscht, wurde besprochen, abgewägt und abgestimmt. Noch einmal wurde alles im Schnelllauf durchlebt, wurden Emotionen und Erlebnisse gewichtet, wurde vor dem Hintergrund eines Video-Wettbewerbes thematisiert. Nicht zu lang durfte er sein, spannend und fetzig sollte er sein, der Streifen. Die ursprüngliche Idee des "Video-Tagebuchs" wurde von den Jugendlichen umformuliert und damit thematisch und inhaltlich anders akzentuiert. Ein Videoclip mit viel Musik, ein Reisefilm mit viel Action und Witz war das Ergebnis."(Baumgartner 1994, S.79)

Ein Weiteres soll Schule in diesem Feld leisten: Modelle anbieten zum "bekömmlichen" Umgang mit der "Überfülle und Heterogenität von Reflexions- und Interpretationswissen". Im Gegensatz zur Präsentation eines "stimmigen Weltbildes" und einem "Leben aus einem Guß" seitens des pädagogischen Personals, hält Hiller es für "aussichtsreicher, weil für alle bekömmlicher", wenn sich dieses als "Narr unter Narren" inszeniert. Dieser zeichne sich aus durch Selbstdistanz und Selbstironie, verzichte auf seine Vorbildfunktion und erzeuge "heiter gestimmte Nachdenklichkeit". (Hiller 1994, b, S.168)

Professionelle ErlebnispädagogInnen können durch diesen Vorschlag vielleicht wertvolle Anregungen erfahren, weil sie sich in besonderer Weise für ein Leben in Extremen und Widersprüchen, weit jenseits von Mittelmäßigkeit und Langeweile, entschieden haben.
 
 

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3.4. Formen der Erlebnisorientierung

3.1 Bildungsplan
3.2 Unstetigkeit in der Erziehung
3.3 Aufgaben
3.4 Formen der Erlebnisorientierung
3.5 Die Täter
 

Es findet sich hier eine ganze Palette unterschiedlicher Formen und entsprechenden Umsetzungsmöglichkeiten. Manche sind stärker auf den Bereich Freizeitgestaltung, andere stärker in Richtung Persönlichkeitsentwicklung ausgeprägt. Die Übergänge sind fließend und das soll auch so sein, um immer auch dem Nicht-geplanten genügend Raum zu geben. In welche Richtung eine bestimmte Aktivität orientiert ist, hängt dabei auch wesentlich von Zielen, Erfahrungen und der Umsetzung seitens des ausrichtenden pädagogischen Personals ab.

Güntner (1994 a) unterscheidet drei Arten von EP: "Die große Reise, ... das erlebnispädagogische Projekt ... und Erlebnispädagogik im Alltag" (ebd. S. 17). Für die Schule unterteilen Gilsdorf und Volkert (1999) in die Kategorien "Kurzzeitprojekte", "Klassenfahrten" und "Langzeitprojekte" (ebd. S. 72). Bei Herrn Rittmeyer hatten wir die vier Kategorien "Workshop", "Kurs", "Tour" und "Expedition" kennengelernt.

Ich habe mich daran orientiert und unterscheide drei Hauptformen der Umsetzung:

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3.4.1. Elemente

3.4.1 Elemente
3.4.2 Kurse
3.4.3 Fahrten

Das alltägliche Unterrichtsgeschehen kann durch das Einbeziehen von eo Elementen, aufgelockert werden, es können andere Zugänge zu Themen gefunden, Inhalte können "erlebt" werden. Im Sinne eines motivierenden Einstieges wird so etwas sicherlich an vielen Schulen praktiziert. In einer eo Schule wird man jedoch bemüht sein, es nicht bei einem Einstieg zu belassen und ansonsten zum Wissensunterricht zurückzukehren, sondern immer wieder nach Gelegenheiten Ausschau zu halten, in denen sich erlebnisintensivere Formen verwirklichen lassen.

Ich denke hier an Elemente, die vier Kategorien zuzuordnen wären:

a) Ereignis: Das Besondere erleben.

b) Adrenalin: Spannung erzeugen, Herausforderungen bieten.

c) Bewegung: Den Körper nutzen, leiblich erfahren.

d) Wahrnehmung: Alle Sinne einbeziehen, ganz bei der Sache sein.

Ferner können und sollen als "Highlights" inszenierte Unternehmungen einen Vor- und Nachlauf im Alltagsgeschehen haben. So können im Vorfeld gezielt nutzbringende Fertigkeiten eingeübt werden (z.B. Orientierung) und es können erlebte Situationen, entstandene Wünsche etc. gezielt aufgegriffen und weiterbearbeitet werden.

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3.4.2. Kurse

3.4.1 Elemente
3.4.2 Kurse
3.4.3 Fahrten

In einer eo Schule finden eo Kurse statt. Sie dienen dem Entdecken und Erlernen bestimmter Fertigkeiten und Fähigkeiten. Sie folgen einem methodischen Aufbau und haben deutlich benannte Ziele. Zur Durchführung der Kurse wird u.U. die Schule verlassen und mit außerschulischen Partnern kooperiert; werden sie in Form von Schullandheimaufenthalten durchgeführt, so gibt es Überschneidungen zum Punkt 3.

Je nach Bereich und Intensität unterscheide ich drei Formen:

a) Schnupperkurs: Eine neue Tätigkeit kennenlernen, eine neue Erfahrung machen.

b) Trainingskurs: Erlernen von Fertigkeiten und Techniken für eine bestimmte Aktivität.

c) Kurzschule: Entdecken und Erlernen von Fähigkeiten bezogen auf Individuum, Gruppe und Umwelt, im Medium natursportlicher Aktivitäten.

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3.4.3. Fahrten.

3.4.1 Elemente
3.4.2 Kurse
3.4.3 Fahrten

Fahrten wenden sich neuen Orten zu. Je nach Ausrichtung dienen sie dazu Spaß zu haben, erlernte Techniken in der Realität zu erproben oder sich in einer besonderen Weise herauszufordern. Die Intensität der pädagogischen Begleitung kann dabei stark variieren, die Selbsttätigkeit der Jugendlichen steht aber immer im Vordergrund.

Auch hier fallen mir wieder drei Kategorien ein:

a) Ausflug: Nach draußen gehen, etwas Neues kennenlernen, Spaß haben, ein paar Stunden oder Tage.

b) Tour: Geplante Unternehmung, anstrengend, fordernd, belebend, ein oder mehrere Tage.

c) Expedition: Länger dauernde Unternehmung in die "Wildnis" und in unbekannte Regionen des Selbst mit enormen Herausforderungen auch für das pädagogische Personal.
 
 

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3.5. Die Täter

3.1 Bildungsplan
3.2 Unstetigkeit in der Erziehung
3.3 Aufgaben
3.4 Formen der Erlebnisorientierung
3.5 Die Täter

Besondere Maßnahmen erfordern besondere Fähigkeiten. Wer also kann was machen?

1. Der gemeine Pädagoge

Immer auf der Suche nach spannenden und motivierenden Formen pädagogischen Wirkens holt er sich Anregungen, integriert das eine oder andere in seine bisherige Praxis und tastet sich in Neuland vor.

2. Der "kleine" Experte

Der Pädagoge hat einige Erfahrungen gesammelt und ist sich sicher, dass er auf einem guten Weg ist. Er reflektiert und systematisiert seine Erfahrungen, sucht gezielt nach Fortbildungsmöglichkeiten und nach Feldern, in die er sein Wissen, seine Erfahrung und seinen Tatendrang tragen kann. Die Arbeitszeit langt ihm hierfür nicht, er macht Selbsterfahrungen in seiner Freizeit und verbindet Hobby und Beruf.

3. Der Spezialist

Er hat Schwerpunkte gesetzt, die Tätigkeit bestimmt sein Leben in hohem Maße.

a) Der Experte im Haus

Er inszeniert, organisiert, konzeptualisiert und multipliziert. Er hat einen fest umrissenen Aufgabenbereich übernommen und wird für diese Tätigkeit bezahlt bzw. freigestellt.

b) Der Outdoor-Guide

Er ist spezialisiert auf den Aspekt Technik und Sicherheit, betreibt dieses als Beruf (z.B. Bergführer) oder ist überwiegend ehrenamtlich in einem Verband tätig und kommt als Kooperationspartner in Frage.

c) Der externe Profi

Er ist professioneller Erlebnispädagoge und bietet die Ausrichtung erlebnispädagogischer Programme, Fortbildungen und Qualifikationen als Dienstleistung an. Er hat einen festen Standort oder gibt mobile Kurse.

Für die unterschiedlichen Anforderungen gibt es diverse Fort- und Ausbildungsmöglichkeiten. Beispielsweise bietet der Alpenverein eine speziell auf LehrerInnen zugeschnittene Zusatzqualifikation für Klettersport an. Explizit erlebnispädagogische Zusatzqualifikationen für PädagogInnen werden mittlerweile von mehreren Organisationen angeboten, kosten allerdings auch ein paar Tausend Mark. Unterhalb eines qualifizierenden Anspruchs gibt es die Möglichkeit von Fortbildungen, die Anregungen, neue Ideen und Austausch mit anderen Aktiven bieten.

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