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1. Wandel und Trends -
Erlebnispädagogik an Sonderschulen in Baden-Württemberg
 1.1. Güntner      1.2. Stöppler

Den Einstieg ins Thema vermitteln zwei Interviews, mit denen das Verhältnis von Erlebnispädagogik zur Sonderschule, insbesondere zu Schulen für Erziehungshilfe beleuchtet wird. Es geht um die Einschätzung der aktuellen Situation vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen einerseits, sowie einer Sicht über allgemeine Entwicklungen andererseits. Meine Interviewpartner kommen dabei zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Bei den Interviews handelt es sich um von mir überarbeitete und von meinen Interviewpartnern redigierte Fassungen.

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1.1. Güntner: "Dass ich das noch erleben durfte!"
- Erlebnispädagogik im Wandel
   1.2. Stöppler

 Abbildung 1

Das erste Interview führte ich mit Hans-Dieter Güntner. Der Diplom-Pädagoge (Jg. 1943) ist Referent am Landesinstitut für Erziehung und Unterricht Stuttgart. Er beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Erlebnispädagogik. Begonnen hat er mit Fahrten nach Korsika mit Jugendlichen des Waisenheimes Esslingen, wo er 12 Jahre lang Leiter war. Unter anderem hat er mit Sonderschülern Fahrten in die Falkensteiner Höhle unternommen; u.a. ist er heute in der Lehrerfortbildung aktiv.

Mich interessierten die Perspektiven eines Mannes, der seit vielen Jahren mit dem Thema beschäftigt ist, der praktische Erfahrungen gemacht hat, und der nun diese Entwicklungen vom Bürostuhl aus beurteilt. Was hat sich getan in 20 Jahren, was blieb konstant, wie hat sich die eigene Sichtweise und Praxis verändert?

Herr Güntner war Mitglied der Arbeitsgruppe zur Erarbeitung des Lehrplanes der Schule für Erziehungshilfe und hat in seiner Arbeit immer wieder mit dem Kultusministerium zu tun, weshalb mich seine Einschätzung dieser Ebene interessierte.

Herr Güntner ist Optimist. Er sieht an verschiedenen Stellen die erlebnispädagogischen Keime wachsen: in einzelnen Schulen, die sich auf den Weg gemacht haben, EP in ihren Schulen praktisch umzusetzen, im Bildungsplan, wo die Erlebnisorientierung festgeschrieben wurde und auch ganz "oben" im Ministerium. Dies sei ein schwieriger Weg gewesen: auf der einen Seite eine von sich selbst eingenommene Erlebnispädagogik, die als "messianische Lichtgestalt" - wie er es nennt - aufgetreten sei und auf der anderen Seite eine Sonderpädagogik, die nicht minder von ihrer Perfektheit überzeugt gewesen sei und daher keine weitreichenden Verbesserungsvorschläge habe brauchen können; aber beide Seiten scheinen dazugelernt zu haben.

So optimistisch er diese Entwicklungen beurteilt, so pessimistisch ist seine Einschätzung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Situation von heutigen Jugendlichen, EP sei immer auch Kultur- und Zivilisationskritik, sie habe die Aufgabe und die Potenz solche Defizite anzugehen und sei vor allem in der Gestaltung von Beziehungsangeboten "eine der kompetentesten und potentesten Methoden". Daher sei der "Boom" von EP der traurige Beweis solchermaßen defizitärer Verhältnisse.

Ich finde Hans-Dieter Güntner in dem riesigen Gebäudekomplex des Institutes. Die Wände sind hoch, ebenso die Aktenstapel auf dem Schreibtisch; dennoch gelingt es, eine Ecke freizuräumen. Eigentlich führt Herr Güntner solche Gespräche am liebsten auf der Karlshöhe, welche ganz in der Nähe ist. Wegen des Regenwetters bleiben wir jedoch im Büro; die Fenster müssen geschlossen bleiben, zu laut ist der Straßenlärm. An der einzigen freien Wandstelle hängen ein paar Bilder von Korsika und der Falkensteiner Höhle. Aus den Videofilmen verschiedener Unternehmungen, welche von Jugendlichen in einer Video-AG fertiggestellt wurden, hätte er mir gerne Ausschnitte gezeigt, doch der entsprechende Raum ist belegt; ich bekomme sie ausgeliehen.

Nun wird die Schreibkraft verabschiedet, der Mann mit Vollbart hat Zeit für mich.

Erlebnispädagogik und (Sonder-) Schule: Was können Sie über deren Verhältnis aus ihrer Erfahrung berichten?

Das ist sicherlich mehr, als ich hier erzählen könnte. Ich werde Ihnen daher einfach eine Geschichte erzählen, eine ganz persönliche Geschichte und es freut mich ganz besonders, dass ich das noch erleben durfte!

Kürzlich war ich mit einem hochrangigen Mitglied des Kultusministeriums in der Falkensteiner Höhle. Dazu muss man wissen, dass Erlebnispädagogik in Baden- Württemberg im schulischen Bereich bis vor kurzem nicht sehr geschätzt war. Und dass jetzt der entscheidende Mann mit mir in die Höhle ging, ist fast so etwas wie ein Paradigmenwechsel im Denken.

Im Anschluss an eine Sitzung im Ministerium sagte er mir beim Hinausgehen: "Herr Güntner, mein Sohn interessiert sich für die Falkensteiner Höhle" - er weiss, dass ich schon oft mit Gruppen dort war - und nach einer Kunstpause sagte er: "Und ich auch" und hat gelacht. Es kam dann auch tatsächlich eine eindrucksvolle Fahrt in die Höhle zustande.

Mit diesem Beispiel will ich verdeutlichen, dass sich gerade ein Wandel vollzieht, eine Bewusstseinsentwicklung auch auf höherer Ebene, nämlich dass Erlebnispädagogik für Schule und insbesondere für Sonderschule interessant wird.

Für mich ist das ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite freue ich mich, dass EP allerorten boomt, auf der anderen Seite zeigt dies aber auch, dass Defizite vorhanden sind.

Was waren denn Ihrer Meinung nach die Gründe der bisherigen Ablehnung?

Die Gründe habe ich erst vor kurzem begriffen, unter anderem auch durch Gespräche mit dem Herrn vom Ministerium. Mir wurde deutlich, dass dies mit dem Ausschließlichkeitscharakter von Erlebnispädagogik zusammenhing, bzw. mit dem anfänglichen Darstellen von scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten von EP: Es gab keine Kritik, keine Einschränkungen, EP war der alleinseeligmachende Weg - Erlebnispädagogik als messianische Lichtgestalt. Das würde ich heute anders machen; aber vermutlich kann man es gar nicht anders machen, wenn man in einer Anfangssituation steht, von einer Sache überzeugt ist und sich als Pionier fühlt - und so war das damals.

Gleichzeitig ist Sonderpädagogik in Baden- Württemberg so ausdifferenziert, so gut organisiert und so erfolgreich wie in keinem anderen Bundesland. Und dann kommt so eine "Lichtgestalt" Erlebnispädagogik daher und weist darauf hin, dass da etwas fehlt in der Sonderpädagogik. Das tut weh, und es erzeugt Ablehnung.

Daher kam über lange Jahre vom sonderpädagogischen Bereich, wo alles wohl geordnet ist, wo man fürs Kind soviel tut, wo der sonderpädagogische Förderbedarf sozusagen mit Gießkannen ausgeschüttet wird, soviel Widerstand und Aggression.

Heute würden sie also nicht mehr die EP als messianische Lichtgestalt vor sich hertragen, was hat sich noch gewandelt?

Früher habe ich nicht gewusst, dass EP für manche Kinder, gerade im sonderpädagogischen Bereich, nicht geeignet ist. Bei einer meiner Korsikafahrten musste ich dies lernen: Bei einer Bergtour setzte sich Diana auf den Boden, in raumreduzierter Haltung – Block – Aus. Wir mussten sie ein Stück heruntertragen, bis sie wieder ansprechbar wurde.

In unserem Heim lebten damals auch etliche ihrer Geschwister und ich habe begriffen, dass erlebnispädagogische Aktionen für Kinder, die in den ersten drei Jahren kein Urvertrauen gehabt haben, möglicherweise kontraindiziert sind. Wenn Angst hochkommt, werden sie davon überschüttet und sie haben keinen Halterahmen, kein Halteseil, womit sie wieder herausfinden.

Heute sage ich: Man muss das Kind oder den Jugendlichen vorher, im diagnostischen Bereich, angucken, seine Anamnese, seine Lebensgeschichte, um zu entscheiden, an welcher Aktion kann es teilnehmen und wo nicht. Und das gilt natürlich auch für die Sonderschule; ein Lehrer im Bereich E oder L beherrscht soweit die Diagnostik, dass er so eine Entscheidung im Vorfeld treffen kann und muss.

Erlebnispädagogische Aktionen erzeugen oft ein starkes Wir-Gefühl. Ist es da nicht problematisch, Einzelne von gemeinsamen Aktionen auszuschließen?

Im schulischen Bereich komme ich nicht umhin, die Gleichheit in einer Gruppe aufzulösen, zu zeigen, wir sind nicht gleich; das muss möglich sein, auch in einer E-Schule – übrigens wissen die Kinder auch, dass nicht alle über einen Kamm zu scheren sind.

Ich habe auch immer wieder Jugendliche gehabt in der Höhle, die den Mut hatten, vor dem Siphon zu sagen: "Ich gehe nicht durch". Ich sage Mut, denn es ist ein größerer Mut, vor der Gruppe die Angst zuzugeben, wie mit Ach und Krach durch den Siphon durchgezogen zu werden, der Held zu sein, und dann hinter dem Siphon an nichts anderes zu denken als: "Ich muss da ja wieder raus!"

Auch der Lehrer kann im klaren Bewusstsein sagen: "Du musst dableiben, das musst du mir überlassen, ich trau dir das nicht zu". Das ist ein schwerer Gang, aber es ist realistisch und man kann nichts anderes tun, weil man sonst Fehler macht, die u.U. auch dramatisch werden können.

Steht eine Diagnostik im Vorfeld nicht im Konflikt mit dem unzählige Male dokumentierten überraschenden Moment: Das hätte ich dem nie zugetraut...?

Ja, deshalb kommt es eben auf die Wahl des richtigen Mediums an; auch ich selber habe diesen Moment oft erlebt und auch beschrieben. Trotzdem ist die Warnung da - aber jetzt erst: Am Anfang habe ich alle mitgenommen, heute würde ich das nicht mehr tun. Ich habe auch Lehrgeld gezahlt z.B. bei Diana, aber auch im Bereich von Beziehungen; es können sich Beziehungen ja auch verschlechtern, nicht nur verbessern! Ralf z.B.: Er hat es nicht auf die Reihe gekriegt, dass ich auf Korsika ein Mensch war, kein Heimleiter mehr. Auf all den Reisen, wenn du da mitten drin bist, 24 Stunden am Tag, da hast du keine Rolle mehr; deine eigene sonstige Situation ist genauso aufgehoben, du bist Mensch wie der Schüler auch, hast die gleichen Ängste, die gleichen Schwierigkeiten, hast Stress, hast Angst. In der EP steigst du ja für eine gewisse Zeit aus der Rolle aus und wirst Gleicher unter Gleichen.

Nicht Lehrer, sondern Mensch sein, Gleicher unter Gleichen: kann das Lehrern nicht Angst machen?

Ja, darum machen sie es dann auch nicht. Es gibt viele Lehrer, die wagen es nicht – und ich sag das, ohne es zu bewerten! Wenn einer sagt: "Nein, ich lasse es", ist das sogar gut: Er hat sich entschieden.

Was ein Lehrer nämlich nicht soll, ist Dinge machen, die er nicht kann, das sag ich auch immer auf Fortbildungen. Viele Lehrer können unheimlich viel: Natursportarten, Kunst, Kreativität ..., und auf dem Gebiet sollen sie EP machen. Aber nicht mit aller Gewalt: Klettern, weil das gerade alle machen – und er hat Angst, hängt verkrampft in der Wand. Das kann er gleich lassen, das merkt auch der Schüler sofort. Also ich empfehle jedem Lehrer, das zu machen, was er kann.

Das hieße aber eine Klasse, die nicht den geeigneten Lehrer hat, kann nicht in den Genuss von EP kommen?

Nein, nicht unbedingt. Man kann ja Experten mieten, die z.B. dann mit der Schulklasse und dem Lehrer losgehen. So war das mit dem Karlsruher Grat, da haben die mich regelrecht gemietet und es war wirklich eine gelungene Aktion, die wir auch in einem kleinen Heft dokumentiert haben.

Solche Experten sind ja in der Regel umsonst nicht zu haben. Kennen Sie gute Möglichkeiten, wie solche Unternehmungen finanziert werden können?

Eine Möglichkeit ist, dass Schüler selber Geld beschaffen durch den Schulbasar, mit der Schülerfirma, durch Dienstleistungen. Eine andere ist es, Sponsoren zu suchen; evtl. können dies ebenfalls Schüler tun, zumindest aber kann man sie einbeziehen. Eine dritte bietet sich an, wenn solche Fahrten als Kooperationsbegegnungen zwischen einer Sonderschule und einer Regelschule gestaltet werden, hierfür gibt es dann Zuschüsse, die über die Oberschulämter vergeben werden.

Machen wir doch noch einmal einen Schwenk zum Beginn unseres Gespräches: Dort haben Sie davon gesprochen, dass EP immer auch auf Defizite hinweist. Sind diese Defizite im Sinne einer Kulturkritik zu verstehen?

Wenn jemand ernsthaft EP betreibt oder sich darauf einlässt, dann hat er einen Schritt vorher gemacht, nämlich sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu befassen – das muss nicht unbedingt pädagogisch sein. Und in irgendeiner Form – und da kommt das Wort jetzt wieder – hat er sich mit einem Defizit beschäftigt, sonst würde er es nicht betreiben.

Dass für viele Leute heute Bungee-Springen, Abenteuer-Touren machen, Survival-Urlaub in Kanada und was es sonst alles gibt, so beliebt ist – das ist ja regelrecht eine Welle im Konsumangebot der Freizeitindustrie – das zeigt schlicht und ergreifend, dass wir irgendwas in unserer heutigen Gesellschaft verloren haben. Statt dass sich die Leute am Wochenende auf die faule Haut legen, ziehen sie los und machen die verrücktesten Geschichten. Also es fehlt etwas.

Noch einmal: wer sich gedanklich mit EP befasst, hat ein Schüsselerlebnis voraus gehabt, dass irgend etwas nicht stimmt. Und das führt eigentlich automatisch dazu, dass er sich Gedanken macht über – sagen wir es mal so – den Menschen als soziales Wesen, der sich mit seinen eigenen Trieben in die Gesellschaft integrieren muss und das nicht kann. Und dass er, wenn es nicht gelingt, nach Wegen sucht, wie es gelingen könnte. Etwas Soziales spielt immer eine Rolle.

Und das ist dann eigentlich schon Kulturkritik oder Zivilisationskritik.

Kulturkritik kann ja auch Assoziationen an die NS-Zeit wecken ...

Kulturkritik und Nationalsozialismus muss man trennen. Dass in Deutschland fast 50 Jahre vergehen mussten, bis EP wieder in einem Lehrplan auftaucht, das ist im übrigen Europa und Amerika überhaupt nicht der Fall. Während es im angelsächsischen Sprachraum seit der Reformpädagogik bis heute überhaupt keine Zäsur gibt, haben wir hier den großen Einschnitt der NS-Zeit. Ich habe da zwar noch nie etwas als Kritik an mir und meinem Wirken gehört, aber ältere Lehrer wissen es, dass die Kraft-Durch-Freude-Kader, die Abenteuerkader, die Pimpfe beim Lagerfeuer im Wald, mit Springen über Reifen, mit Mutproben, Erlebnispädagogik pur betrieben haben – aber missbraucht durch diese Ideologie.

Auch im Kreis der Verfechter von EP war dieses Thema lange tabuisiert und wird erst seit kurzer Zeit auch theoretisch bearbeitet.

Erlebnisorientierung als ein Unterrichtsprinzip, verankert im Bildungsplan der Schule für Erziehungshilfe hier in Baden-Württemberg. Wie kam es dazu?

Das ist eine Sache, die letztlich eigentlich traurig ist, denn der Boom der EP hat sicherlich damit zu tun, dass auch Schule nicht mehr daran vorbei kann, dass die Schwierigkeiten in der Schule – oder einzelner Kinder - so groß sind, dass mit normalen pädagogischen Mitteln, auch sonderpädagogischen Methoden, kein Bezug mehr herzustellen ist. In der Sonderschule E ist das Problem nochmals potenziert.

Es hat daher eine Logik, dass Erlebnisorientierung zum ersten Mal im Bildungsplan einer E-Schule festgeschrieben wird, weil die Schwierigkeiten der Schüler dort immer zuerst ankommen. Die Erziehungshilfe ist ein ganz sensibler Bereich, denn dort gibt es immer die ersten Trends von Störungen in der Schülerschaft, später kommt dann das ganze Feld hinterher, bis zum Gymnasium.

EP im Bildungsplan der E-Schule hat aber mit Sicherheit auch jetzt schon Auswirkungen auf andere Bildungspläne und Schularten. Das Wort Erlebnisorientierung ist quasi hoffähig geworden; das Wort Erlebnispädagogik hingegen hört man drüben im Ministerium eigentlich nie.

Trotz dieser Wortspiele ist EP im Kern aufgegriffen worden, wenn auch aus Not oder Notwendigkeit.

EP hat nun Eingang in den Bildungsplan, in die Schule gefunden, man kann es ja einfordern, es steht ja jetzt drin. Es ist sogar so, wenn es einer nicht macht in der E-Schule, wird er u. U. eher dumm angeguckt, denn er soll es ja machen – das ist toll, da ist etwas passiert.

Welches sind denn die besonderen Stärken von EP in der Schule?

Vor allem im Beziehungsangebot ist EP eine der kompetentesten und potentesten Methoden, um die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler zu gestalten, deshalb muss man so etwas auch am Anfang eines Schuljahres machen und nicht als Abschlussfahrt.

Ich habe durch meine Referententätigkeit im Seminar für BVJ-Lehrer mitbekommen, dass sie eine Woche ins Schullandheim fahren, bevor das BVJ losgeht, in den Schwarzwald, den Bayrischen Wald, an den Bodensee, um Begegnung auf dieser Ebene zwischen Lehrern und Schülern zu ermöglichen - außerhalb vom Klassenzimmer, denn das kennen sie alle, das haben sie hassen gelernt, da läuft gar nichts mehr.

Erschöpfen sich denn die schulischen Möglichkeiten der EP in Schullandheimaufenthalten?

Nein sicherlich nicht. Sie können ein ganzes Jahr gestalten mit ep Möglichkeiten. Ich habe mit einer E-Klasse das Projekt "Falkensteiner Höhle" durchgeführt. Dort haben wir zu Beginn einen Ausflug gemacht, zur Mitte noch einen unter anderen Gesichtspunkten und zum Schluss dann der Siphon; also ein Spannungsbogen über die ganze Zeit hinweg.

Jeder Lehrer weiß: Was Sie von einem Aufenthalt draußen mit hinübernehmen in die Schule, damit können Sie im Klassenzimmer völlig anders lernen. Oder man holt Experten von außerhalb: Dann wird Unterricht ganz anders, es wird ernsthaft.

Wenn Sie der Hannah-Arendt-Schule drei Dinge raten sollten – was wäre das?

Ich habe darüber nachgedacht – die Frage hat ja nicht unbedingt mit EP zu tun - und habe drei Dinge gefunden: Klare Strukturen, kein Vakuum und natürlich: Erlebnispädagogik versuchen.

Klare Strukturen: Das hat mit meiner Geschichte als E-Lehrer zu tun. Damals, kurz nach 68, gab es das Schlagwort: "Ausagieren lassen", z.B. Schulkeller unter Wasser setzen und das toll finden und solche Dinge. Ich habe zum Glück recht rasch begriffen, dass die E-Kinder - damals hießen sie noch "sittlich gefährdet" - Angst bekommen, wenn man solche Antriebe einfach laufen lässt. Sie werden überschwemmt von Antrieben im archaischen Sinne, die herausbrechen, und dann ist keiner da, der sie lenkt und sagt: "Stopp, hier ist Schluss". Selbstregulierung hieß das Wort, doch wo nichts ist, kann sich auch nichts regulieren; bei vielen Kindern in der E-Schule sind oft auch einfache Regularien nicht angelegt.

Kann EP einen konstruktiven Beitrag zum Erlernen solcher Regularien, von sozialen Regeln leisten?

Ja, denn wo im "echten", bisweilen auch im "harten" Leben agiert wird, werden Regeln zur (Überlebens-) Notwendigkeit, ihr Sinn unmittelbar erfahrbar. Lassen Sie mich mit Kurt Hahn antworten: "Sich bewähren in Ernstsituationen", das war sein Credo, damals als Gegenpol zur schulischen Veranstaltung gedacht, die Jugendlichen keine Gelegenheiten bot, eigene Erfahrungen zu machen.

Wunderschöne Frage im Heim: "Hast du heut frei oder bist du im Dienst?" besser kann man die Situation überhaupt nicht beschreiben. Wenn ich frei hatte, war es gut, wenn nicht, dann war ich der professionelle Pädagoge und nicht zu gebrauchen.

Schüler erkennen oft, dass Lehrer pädagogisieren: Auf die Schüler zurechtgeschnittener Stoff ist Spielerei. Am Gymnasium machen die Schüler das mit, weil sie 10 Jahre einschlägige Sozialisation hinter sich haben, im entsprechenden Rahmen: Eltern im Hintergrund, Normen, Zukunftsaussichten – unsere Kinder haben das alles nicht und sind aus dem Grund archaisch rudimentär, in einer Ehrlichkeit, die mich an denen eigentlich immer begeistert, aber auch genervt hat.

"Sich bewähren in Ernstsituationen" ist das Gegebene und nicht die spielerische Schulnorm, wo man so tut als ob.

Und das Vakuum? Was soll da vermieden werden?

Kein Vakuum meint: Nichts abgeben, wenn man etwas Neues noch nicht hat.

Ich war kürzlich auf einem Treffen ehemaliger Heimbewohner, die heute um die 30 Jahre alt sind und mit mir damals als Jugendliche auf Korsika waren. Die erzählten mir, für mich völlig überraschend, dass ihnen etwas gefehlt hätte, als der Gottesdienst am Dienstag Morgen um halb sechs irgendwann abgeschafft wurde. Nicht, dass sie sich nicht genauso müde wie alle andern auch dorthin geschleppt hätten, aber irgendwie fehlte da etwas.

Oder das Gebet, mit dem der Unterricht begann. Ich habe mit meiner Klasse nicht gebetet, sondern wir haben immer ein paar Konzentrationsübungen gemacht, aber es braucht halt gewisse Rituale, die den Übergang von einer Zeit in die andere markieren.

Meine Empfehlung ist daher: Dinge, die man aufgibt und seien es auch nur Gewohnheiten, sollte man nicht ohne Not aufgeben ohne etwas Neues zu setzen.

Und das Dritte: Erlebnispädagogik versuchen?

Ich behaupte, wenn eine Institution, sei es Heim oder Schule, EP ernsthaft betreibt, und das kann einer sein, der anfängt, verändert dies die gesamte Institution. Aber es produziert auch Widerstände. Damals, bei mir im Heim, waren es oft die Erzieher, die die Last des Alltags zu tragen hatten und sauer waren, wenn der Güntner mit der Gruppe euphorisch aus der Höhle zurückkam und sie wieder abgegeben hat an der Pforte: "Das war halt eine Aktion – wir haben sie 24 Stunden am Tag".

Wenn sie mit EP in einer Institution beginnen, gibt es meiner Erfahrung nach ganz spontan zwei Lager: Die einen machen sofort mit und sind begeistert, die anderen sind absolut dagegen – dazwischen gibt es eigentlich nichts.

Diesen Leuten EP nahebringen zu wollen, oder wie ich es damals noch ausgedrückt habe, sie von der "Lichtgestalt" Erlebnispädagogik überzeugen zu wollen, ist außerordentlich mühsam und gelingt oft nicht. Bei der damaligen stellvertretenden Heimleiterin ist es dennoch gelungen: Sie hat sich trotz ihrer anfänglichen Ablehnung ganz langsam auf den Weg gemacht, weil ihr aufgefallen ist, dass die Kinder immer "ganz anders" zurückkamen.

Wenn ich mit einer Gruppe in der Falkensteiner Höhle durch den Siphon bin, konnte ich übrigens beobachten, dass es einen Zeitraum gibt – zwei bis drei Wochen – in dem selbst Schwerstgestörte gut drauf waren, dann ging es wieder zurück – wäre ja auch ein Wunder, wenn sie plötzlich andere Menschen geworden wären. Dennoch ist es möglich, mit EP bestimmte Situationen befristet aufzubrechen, wo dann Manches angegangen werden kann.

Haben Sie noch einen speziellen Tipp für die Schulleitung?

Wenn ein Leiter einer E-Schule sich EP zu Herzen nimmt, sie auf den Weg bringen will und ein paar Kollegen hat, die mitziehen, dann müsste es meiner Ansicht nach gelingen, vorausgesetzt dass er die Kollegen, die dagegen sind oder Bedenken haben, nicht in falsche Zwänge steckt; die müssen das vielleicht eine Zeitlang einfach nur hinnehmen und belassen. Sie werden dann vermutlich bemerken, dass mit den Kindern etwas passiert, was auch den Lehrern gut tut.

Nach gut 90 Minuten beenden wir unser Gespräch. Ich bekomme noch Adressen von einigen Schulen, die EP-Erfahrungen gemacht haben. Herr Güntner muss zu einem Arzttermin, bei dem ihm die Ergebnisse einer Borrelioseuntersuchung mitgeteilt werden - die Risiken des Freiluftlebens sind eben nicht immer spektakulär.
 

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1.2. Stöppler: "Ich gebe ep Ansätzen derzeit keine große Chance."

Abbildung 2

Das zweite Interview führte ich mit Thomas Stöppler. Er ist Vorsitzender des Fachverbandes für Behindertenpädagogik in Baden-Württemberg und Schulleiter der Albert-Schweizer-Schule, einer Förderschule in Öhringen. In seiner Zeit an der E-Schule der Wilhelmspflege in Stuttgart sammelte er praktische Erfahrung mit erlebnispädagogisch orientierten Experimenten.

Als VDS-Vorsitzender hat er v.a. Trends im Blick und weniger die zarten Keime. Sein Ergebnis ist klar und eindeutig: EP liege nicht im Trend, laufe den aktuellen Strömungen in der Sonderpädagogik zuwider. Trends begreift er v.a. als das, was von der Mehrzahl der Schulen aufgegriffen und umgesetzt wird und vor diesem Hintergrund relativiert sich beispielsweise die Verankerung von Erlebnisorientierung im Bildungsplan erheblich.

Zwei große Strömungen hätten zu ep orientierten Angeboten in E-Schulen geführt: Freiarbeitskonzepte und Montessori-Pädagogik auf der einen Seite, Handlungs- und Lebensweltorientierung auf der anderen Seite. Die Entwicklungen gingen aber weg von einer emotional-psycholgischen, hin zu einer mehr funktionalen Ausrichtung von Schulpädagogik, wie sie heute auch wieder von vielen Eltern gefordert werde und in der EP eigentlich keinen Platz habe. EP-Elemente an Schulen einzuführen, habe überhaupt nur dann eine Chance, wenn sie viel enger bezogen auf schulische Aufgabenstellungen begründet werden.

Darüber hinaus findet sich an E-Schulen häufig eine Berührung von Schule und Jugendhilfe. Herr Stöppler skizziert daher die unterschiedlichen Perspektiven und plädiert für eine wesentlich höhere Trennschärfe bei der Begründung, Zielsetzung und Aufgabenübernahme, wenn EP-Inszenierungen gemeinsam veranstaltet werden, nur so könne Kooperation gelingen.

Es ist ein heißer Nachmittag, wir treffen uns in der Schule. Der heutige Schulbetrieb ist vorbei, außer ein paar Handwerkern und dem Reinigungspersonal treffe ich nur noch den Schulleiter im Haus. Die offenen Fenster und Türen erzeugen einen Durchzug, der die Hitze erträglicher, Herrn Stöpplers Frisur jedoch recht ungestüm macht. Wir beginnen das Interview mit einem historischen Abriss.

Aus welchen Entwicklungen heraus sind ep orientierte Ansätze in der Erziehungshilfe entstanden?

Im Erziehungshilfebereich gab es eine lange Phase, in der man das Unterrichtsgeschehen nicht so stark im Fokus hatte. Im Vordergrund stand ein Ansatz des Verstehens von Störungsbildern und die Gestaltung der Beziehungsebene.

Vor 15 Jahren gab es eine Trendwende, die wurde u.a. ausgelöst durch die Thematisierung von Montessori-Pädagogik, Freinet-Pädagogik und Freiarbeitskonzepten, wodurch man auf einmal sehr stark in einer didaktisch-methodischen Diskussion war. Manche E-Schulen haben sich allerdings dabei komplett ausgeschaltet, andere haben versucht ihr didaktisch-methodisches Konzept zu reflektieren. Es gab dann zwei große Richtungen: Zum einen mehr Freiarbeit / Montessori-Pädagogik mit ihren Ausdifferenzierungen, zum anderen handlungsorientierte Konzepte, v.a. in der Oberstufe. Dort begannen dann Aktivitäten, die auf eine berufliche Orientierung zielten, z.B. der Umbau einer Scheune zu einer Schulwerkstatt, also handlungsorientierte Projekte, die aber Ernstcharakter hatten. In diesem Zusammenhang stellte sich auch die Frage: Bringen ep orientierte Ansätze etwas?

Es hat sich dann so entwickelt, dass im Bereich von Frühförderung und Vorschulerziehung, in Schulkindergärten, vielfach nach dem Montessorikonzept gearbeitet wurde - das Kind als Akteur der eigenen Entwicklung - was dann in den Unter- und Mittelstufen eher zu Freiarbeitskonzepten führte.

Die Handlungsorientierung, also Unterrichtsprozesse in Lebenswirklichkeiten anzusiedeln und nicht in der "Laborsituation Klassenzimmer", kam mehr von der Oberstufe her.

Es gab daneben noch einen Grundgedanken, der mehr von der psychologischen Seite her formuliert wurde, als Grundlage für didaktisch-methodische Konzepte, nämlich dass Kinder, die stark von präneurotischen oder präpsychotischen Elementen gekennzeichnet sind, wenigstens im Rahmen von Schule Kontakt zur Lebenswirklichkeit, zur gesellschaftlichen Realität brauchen, damit Schule nicht als ein sekundäres Neurotisierungsfeld auftritt.

In welcher Weise haben sich diese Grundgedanken dann konkretisiert?

Es gab damals eine Tendenz, z.B. in der Wilhelmspflege, wo ich früher tätig war, zu sagen: Schule gestaltet Lernsituationen außerhalb von Schule, in dem eine Klasse oder Gruppe, begleitet von Lehrern, manchmal auch von Erziehern, z.B. in Selbstversorgungssituationen hineingeht und zwar in solche, die viel Raum für eigene auch körperliche, motorische und erlebnisorientierte Erfahrungen bieten. So hat die Wilhelmspflege kontinuierlich Schullandheime im Bregenzerwald durchgeführt - ob man dies nun EP nennt oder nicht - in einem Haus ohne Strom und fließendes Wasser, wo man fast 2 km hin laufen musste, und dies bereits ab der 1. Klasse für 10 Tage bis drei Wochen. Hier stand Naturerfahrung im Mittelpunkt und ein experimenteller Umgang mit der näheren Umgebung, wo, nach Abstimmung mit den Bauern, Staudämme und große Matschlandschaften aufgebaut wurden. Ebenso wichtig war der Selbstversorgungsaspekt, wo in wechselnden Gruppen gekocht wurde. Angereichert wurde eine solche Fahrt durch ca. 1 - 2 Stunden am Tag eher schulisch orientiertes Arbeiten: Dokumentation von Erlebnissen, abhängig von den Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen. Diese Fahrten fanden teilweise auch im Winter statt mit entsprechend verschärften Bedingungen z.B. durch meterhohes Einschneien.

Wie lief die Zusammenarbeit zwischen LehrerInnen und ErzieherInnen?

Es gab teilweise Personaleinsatzprobleme, da die Tagesgruppen klassenübergreifend zusammengesetzt waren. Wenn z.B. nur zwei Kinder einer Klasse dort betreut wurden, und eine Erzieherin mitfuhr, führte dies zu personellen Engpässen.

Ansonsten ist der Blickwinkel beider Gruppen komplett unterschiedlich: Die Sozialpädagogik kommt ganz stark aus dem Blickwinkel heraus: Wir sind ganz nah beim Kind und wir vertreten die Elternseite - jetzt mal bildlich gesprochen. Die Schulpädagogik vertritt auch in der Sonderpädagogik eher den Blickwinkel: Gesellschaftliche Realität - du musst dich nachher irgendwie bewähren.

Dieses Spannungsfeld, das gibt es, ich halte es aber für fruchtbar, weil das die Eltern dieser Kinder in der Regel nicht wahrnehmen können und die Sozialpädagogik dann diese Position selbstverständlich einnimmt. Der Blickwinkel Eltern heißt natürlich, wenn man ihn professionell einnimmt, die erzieherische Fragestellung wesentlich stärker im Blickfeld zu haben. Bei solchen Schullandheimaufenthalten habe ich festgestellt, dass Schulpädagogik eher unstrukturiert mit dem Feld Erziehung umgeht. Die Erzieher oder Sozialpädagogen waren sehr schnell an einer Regelung interessiert, wie laufen Kochsituationen ab, wie sieht die Essenssituation aus, gibt es einen gemeinsamen Beginn, Tischmanieren usw.. Die Lehrer und Lehrerinnen haben eher dazu geneigt, es einfach laufen zu lassen, da auch Sonderpädagogik (mit Ausnahme im Geistigbehinderten Bereich) solche Situationen leider noch nicht als eigenständige Handlungsfelder erkannt hat. An solchen Stellen entstehen dann Reibungen, Auseinandersetzungen, die dann meistens von der Sozialpädagogik so benannt werden: "Ihr gebt zu wenig Orientierungsrahmen, führt nicht entsprechend eng, bearbeitet Konflikte mit Schülern nicht entsprechend, seht hier kein Feld für soziales Lernen".

Was gab es für erlebnisorientierte Projekte außer den Schullandheimaufenthalten?

Als einen anderen Baustein gab es erlebnisorientierte Tage, drei Stück hintereinander, irgendwo im Gelände draußen, aber in Schulnähe, teils mit teils ohne Übernachtung. Da gab es beispielsweise ein großes Projekt: Thema Indianer. Da haben wir 3 – 4 Aktionstage unter dem Stichwort Indianer gemacht, im Schönbuch mit Zelt und Hüttenbau usw..

Ein dritter Ansatz war dann, stärker in den Bereich Versorgung einzusteigen, über Kleintierhaltung, was eigentlich die E-Einrichtungen alter Prägung stark gekennzeichnet hat. Zum Teil wurden die noch vorhandenen Stallungen wieder neu genutzt, mit Schafen, mit Ziegen; aber auch mit Gartenbau oder Mithilfe bei Ernten wurde experimentiert.

Dann gab es Projekte in den Schulen selber, die über eine ganze Woche ein bestimmtes Thema hatten, z.B. Höhle. Da wurden dann psychologische Erkenntnisse, z.B. aus der psychotischen Autismusforschung aufgegriffen, aus der Regressionstheorie Balints z.B., und es wurde versucht, das eine Woche unterrichtlich aufzugreifen: So wurden z.B. Klassenzimmer in Höhlenlandschaften umgewandelt, also Regressionsmöglichkeiten geschaffen, und Höhlenexkursionen auf der schwäbischen Alb unternommen, um Kindern andere Erlebenswelten zugänglich machen.

Oder ein anderes Projekt, in dem der gesamte Keller einer E-Schule zu einer Geisterbahn umgebaut wurde, entwickelt und verwirklicht von Oberstufenschülern. Auch hier mit deutlich psychologischem Hintergrund: Die Aktivierung von inneren Erlebniswelten.

Es gab dann einen Trend, stärker wegzukommen von den rein emotional geprägten Erlebnissen, hin zu zielgerichteten handlungsgeleiteten Aktivitäten, wie beispielsweise den erwähnten Scheunenumbau. Das waren große Projekte, teilweise unterstützt von der Bosch-Stiftung.

Hat man diese emotional-psychologische Ausrichtung als Irrläufer betrachtet oder war dies einfach nicht mehr im "Trend"?

Ich glaube, es hat eher etwas mit Trends zu tun: Der Trend im Moment ist sehr ausgerichtet auf die Frage der beruflichen Eingliederung und Orientierung und d.h. auf dem Hintergrund realistischer Selbsteinschätzung eigene Fähigkeiten zu entwickeln, gekoppelt mit dem Bemühen um die Entwicklung von Schlüsselqualifikationen. Also im Grunde genommen wieder eine stärker schulpädagogische Besetzung. Was derzeit unter Oberstufenreform im Sonderschulbereich in Baden-Württemberg gefasst wird, lebt ganz stark von diesem Ansatz.

Ein Bereich ist hier die Schülerfirma als selbstgegründete Firma mit Ernstcharakter, hier z.B. bei uns vor Ort als Dienstleistungsfirma mit Serviceangeboten für ältere Menschen. Also lernen in praktisch relevanten Situationen, sehr zielgerichtete funktionale und produktorientierte Aktivitäten.

Ein weiterer Bereich, durchaus auch produktorientiert, sind musisch-kulturelle Projekte, wie der Schulzircus oder ähnliches. Dies entwickelt sich derzeit als parallele Linie deutlich heraus, weil man erkannt hat, dass die ganze Oberstufenreform sehr funktional ausgerichtet ist, und dass Schule auch Angebote in ganzheitlicheren Bereichen haben muss.

In so einer funktionalen Sichtweise könnte EP ja durchaus zu einer gezielten Freizeitgestaltung anregen...

Hiller hatte ja mal die Diskussion um den Freizeitbereich angeregt mit der Fragestellung: Wie bereiten wir unsere (bald arbeitslosen) Schüler auf ein Leben in der "Freizeitgesellschaft" vor, aber diese Frage ist von der Gesamtströmung nicht richtig aufgegriffen worden, bis, zumindest an einigen Schulen, auf den Aspekt Kooperation Schule – Verein. Meiner Meinung nach kann man im Moment nicht von einem Profilmerkmal sprechen.

Als weiterer Trend wäre, gerade für Oberstufenschüler, die Vernetzung mit freien Trägern der Jugendarbeit zu nennen. Dieser Versuch lebt auch von dem lebensfeldorientierten Grundgedanken – Schule greift das Lebensfeld von Kinder und Jugendlichen auf. Wir haben z.B. hier vor Ort zusammen mit dem Jugendkulturhaus "Fiasko" Jugendkulturtage organisiert: Letztes Jahr mit dem Thema Zirkus, die nächsten Kulturtage sollen unter dem Aspekt: "Wie stelle ich mir die Welt, in der ich später als Erwachsener lebe, vor". Da sieht man die Verbindung musisch-kultureller Aktivitäten, von Lebenswirklichkeit und der eigenen Planung, gekoppelt mit einer Vernetzung der Träger in dem Bereich.

Ein weiterer Bereich war in der Erziehungshilfe das soziale Lernen, was fast aus der Diskussion verschwunden ist. Anlässlich der Erstellung des Bildungsplanes gab es eine Strömung für ein Unterrichtsfach soziales Lernen; dagegen hat sich die Meinung durchgesetzt, soziales Lernen müsse ein permanentes Prinzip sein. In dieser Diskussion wurden die Gedanken des Reformpädagogen Peter Peterson aufgegriffen, vom Lernen in heterogenen Gruppen. Dies führte auch zu altersübergreifenden Gruppen, mit Übernahme von Patenschaften usw..

Grundgedanke ist: Man nimmt aktuell auftretende Situationen und arbeitet an diesen Situationen. Wir machen in der Lehrerfortbildung relativ viel Angebote: Mit Kindern gemeinsam Konflikte lösen, Lehrer als Moderator in Konfliktsituationen etc. Als Handwerkszeug für Alltagslernen.

Ob und wie so etwas aufgegriffen wird, hat viel mit Schulprofilentwicklung zu tun.

Ein weiterer Grundgedanke: Die Umgestaltung von Schulen in Werkstätten, Schreibwerkstatt, Mathewerkstatt usw., das greift ja wieder Elemente der Freiarbeit und der Montessori-Pädagogik auf.

Aber der Kernpunkt in der ganzen Oberstufenentwicklung ist nach wie vor dieses enge, funktionalere Bearbeiten von lebenspraktischen Anteilen. Viele Schulen haben sich da, weil es praktikabel erscheint, relativ schnell darauf gestürzt.

Ist dies nicht ein Rückfall zum Trend in den 70er Jahren, wo die Schüler möglichst passgenau auf ihre zukünftigen Arbeitswirklichkeiten, ja man könnte fast sagen, konditioniert wurden? Gerade gegen diese Entwicklung wurde ja damals das Konzept Schlüsselqualifikationen entwickelt...

Der Trend ist auf jeden Fall wieder mehr in diese engeren Formen, weg von offen gestalteten Lernsituationen. Dazu kommt ein zweiter Trend: Schule, E-Schule, Förderschule muss wieder stärker im Sinne von engen Kursen stattfinden – Deutsch, Mathematik usw. – also Lese- und Rechenfähigkeit vermitteln. Wir beobachten in diesem Zusammenhang auch im sonderpädagogischen Bereich einen Trend der Verengung von schulpädagogischen Konzepten. Nicht verordnet, sondern als allgemeiner Trend. Die Befürworter definieren dies als Erweiterung der Handlungskompetenz, als Grundlage für eine selbstständige Lebensführung – aber ich denke es hat auch damit etwas zu tun, dass sich Schule grundsätzlich mit offenen Situationen schwertut. Und das liegt sicher an der Lehrerpersönlichkeit, denn auch in der Sonderpädagogik suchen Lehrer im Grunde genommen immer nach einer engen Linie. Die Sozialpädagogik hat da kaum Schwierigkeiten, zumindestens was die Inhalte anbelangt.

EP als Aufbruch ins Offene, wie es Ulf Händel genannt hat – ist das dann überhaupt kompatibel mit Sonderpädagogik?

Unumstritten ist sicherlich, dass unsere Klientel Orientierungspunkte benötigt, das schließt aber offene Situationen nicht aus. Ich kann Orientierungspunkte auch in der Gestaltung von Beziehungen setzen, also das was die Sozialpädagogik eher macht. So kann ich von den Inhalten loslassen. Schule tendiert immer stark dazu, Inhalte zu besetzen. Diese sind weniger konzeptionelle Setzungen als eher in Persönlichkeitsmerkmalen der Lehrerschaft begründet. Eine amerikanische Untersuchung geht in diese Richtung: Lehrer seien zumeist Erstgeborene, die früh funktional im Elternhaus eingebunden worden sind und Vorbild für die Jüngeren sein mussten.

Momentan rückt die Gestaltung von Unterricht, didaktische, methodische Konzepte in besonderer Weise in den Mittelpunkt. Wenn dies derzeit in der Lehramtsausbildung diskutiert wird, bleibt das nicht ohne Folgen für die Schule: Schule definiert sich über Unterricht. Der zweite große Bereich in der Sonderpädagogik ist die Ausbildung der Beratungs- und Kommunikationskompetenzen als Erweiterung des Aufgabenfeldes des Sonderschullehrers.

Der Trend zur engeren Profilbildung im Sinne von klassischer Schulpädagogik ist noch recht jung. Wir beobachten diese Tendenzen seit 3, 4 Jahren. Auch solche Unternehmungen wie Firmengründung gehören in dieses enge Feld, weil es eigentlich nur eine andere didaktisch-methodische Setzung ist, aber mit ganz klaren Lernzielen. Es geht deutlich in diese Richtung: Klare lernzielorientierte Kategorien.

Mit dem Bildungsplan für die Förderschulen 1990 haben wir uns ganz deutlich davon abgesetzt: Themenorientierung und nicht irgendwelche Teilziele. Aber das Pendel schlägt gerade recht stark – und wir sind da sicherlich erst am Anfang der Entwicklung – wieder in Richtung dieser engeren Formen. Deswegen: Ich gebe ep Ansätzen im Moment keine große Chance, dass die sich durchsetzen, auch im Bereich der Sonderschulen. Andererseits gibt es eine enge Verknüpfung zwischen ep orientierten Ansätzen und institutionellen Veränderungsprozessen. Oft haben solche Aktionen eine Vehikel-Funktion und bringen einen innovativen Prozess in Gang.

Die Verankerung von Erlebnisorientierung im Bildungsplan der E-Schule ist ja erst wenige Jahre alt – ist das schon nicht mehr "trendy"?

Einerseits ja, andererseits will man mit Bildungsplänen auch Trends entgegensteuern. Bildungspläne verändern ja relativ wenig an den Ausgestaltungsprozessen vor Ort. Sie sollen diejenigen ermutigen, von denen man denkt: Diesen Zug sollte man mehr in Gang setzen. So war es ja gedacht beim E-Plan – ich war ja in der Endredaktion mit dabei – dass man hier mal eine eigenständige Profilierung der E-Schule stützt, aber es wird nur sehr zögerlich in den Schulen aufgegriffen.

Der Trend geht eindeutig in die andere Richtung: enge Unterrichtsorientierung und Trainingskurse. Diese Gegenbewegung kommt gerade auch in der Sonderpädagogik sehr stark von einer aufgewachten Elternschaft. Eltern und Elternorganisationen (Landeselternbeirat, Lernen Fördern...) fordern eher wieder klassische Lernformen. Der Druck, der hier entsteht, gibt natürlich auch einer konservativen Lehrerschaft wieder Auftrieb. An den Förderschulen wird der Ruf nach der Schulfremdenprüfung wieder lauter, obwohl man eigentlich klar der Überzeugung war, dass man davon weg geht. Dies hat viel mit dem Selbstverständnis der Eltern zu tun, wo sich Schule über Abschlüsse und traditionelle Lernerfolge definiert.

EP liegt also nicht im Trend. Können sie dennoch denen, die gegen diesen Trend experimentieren, Empfehlungen geben?

Wir müssen auf einem hohen qualitativen Niveau begründen können, warum wir diesen Weg einschlagen. Wir benötigen z.B. Kompetenzen in entwicklungspsychologischen Konzepten, also z.B.: was hat EP mit Förderung im Bereich der sensorischen Integration zu tun. Wir müssen auf dem Hintergrund einer sehr qualifizierten Diagnostik unseres Klientels begründen: Was bringt es diesem Kind. Wenn das in den Köpfen derer, die so etwas durchführen, nicht klar ist, wenn man auf eine spontane Frage: Was bringt das den Kindern, 4 Tage im Wald Indianer zu spielen, keine klare und schlüssige Antwort hat, dann hat man schon verloren. Ich nehme das so wahr, dass Lehrer selten schlüssige Antworten hierfür haben, auch nicht, was dies im Zusammenhang mit klassischen schulischen Lernfeldern bedeutet.

Unsere Aufgabe ist es die Förderansätze transparent zu machen und sich schlussendlich zu rechtfertigen für eine sehr teure Pädagogik, wie es Sonderpädagogik nun einmal ist. Speziell für die E-Schulen müssen hierbei natürlich die Persönlichkeitsentwicklung und die Bearbeitung der Verhaltensproblematiken im Mittelpunkt stehen. Das bedeutet für eine Schule, die sich ein solches Profil gibt, in so ein Feld hineinstößt, dass es ihr gelingen muss, die Eltern oder die anderen Partner, also die Sozialpädagogik mit ins Boot zu kriegen. Es muss klar sein: Was ist das speziell schulische Profil solcher Aktivitäten im Gegensatz zum sozialpädagogischen Profil, und das gelingt, indem man die Verbindungslinie zu den klassischen Lernbereichen zieht, dass man deutlich machen kann: Ein Kind, das z.B. große Schwierigkeiten hat in der Differenzierung im Leselernprozess, dass dieses Kind zunächst basale Entwicklungsmöglichkeiten bekommen muss in dem gesamten Feld der Wahrnehmung, Figur-Grund-Wahrnehmungsproblematik z.B., und zwar nah an der eigenen Person, in der Lebenswirklichkeit draußen. Beim Begründungszusammenhang kommt es meiner Meinung nach darauf an, nicht nur auf die Persönlichkeitsentwicklung generell, sondern auch auf die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten abzuheben.

Wäre von ep orientierten Kooperationsprojekten zwischen Schule und Jugendhilfe abzuraten, um die Kompetenzprofile nicht zu verwischen?

Man muss davon abraten, wenn man einfach unreflektiert hineinstolpert, weil man einfach Gefallen an der Aktivität findet, was ja oft ein erster Zugang ist. Es müssen unbedingt die Blickwinkel geklärt werden: Aus welcher Perspektive macht das die Schule, die Lehrerinnen und Lehrer, aus welcher die Sozialpädagogik, welchen Part übernehme ich. Das ist auch eine mentale Fragestellung: Was habe ich mental im Blickfeld, im professionellen Bereich. Wer da unbedarft hineinstolpert, beschwört riesige Konflikte herauf, die dann meistens zum Scheitern führen.

Allgemein lässt sich sagen, dass wir auf Lernen unter kooperativen Aspekten setzen, also Zusammenführung unterschiedlicher Partner. Aber was immer vernachlässigt wird: Ich kann qualifiziert nur dann tätig werden, wenn mir mein eigener Standpunkt klar ist. Und dann ist der zweite zentrale Baustein die Perspektivenübernahme, die Empathiefähigkeit, der professionelle Umgang mit unterschiedlichen Sichtweisen, wobei wir hier im Bereich Lehreraus- und weiterbildung noch komplett in den Kinderschuhen stecken. Das bedeutet, wenn eine Schule oder ein Teil von Schule in ein solches Feld hineingeht, hat dies auf jeden Fall Qualifizierungsmerkmale für das Personal – wenn es bewusst angegangen wird. Was ich jedoch in der Praxis beobachte: Man stolpert in ein Projektle rein, hat sich vielleicht ganz gut gefühlt, die Kinder haben sich auch mal austoben können – mit solchen Alltagstheorien wird dies abgehandelt – und das ist das Aus.

Wie sollten ep Angebote in der Schule gestaltet sein bezüglich ihrer Inhalte?

Der Blickwinkel, den Sonderpädagogik hier einnehmen muss, um ein stückweit professioneller rein zu gehen, ist wirklich der: Ich muss mir überlegen, was bedeutet das, aus diagnostischer Sicht, für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Gehe ich dabei eher den Weg des Kletterns oder den Weg des Matschens? Und das unterscheidet uns von der Sozialpädagogik, die nicht über die Qualifikationen im Bereich sonderpädagogischer Diagnostik verfügt – eben den Teil müssen wir übernehmen in solchen Kooperationsprojekten. Also gerade im Bereich E-Schule heißt das, neben der Frage des didaktisch-methodischen Vorgehens, eben auch die Inhalte von Aktionen zu reflektieren, was bedeuten sie für die Verhaltensproblematik bei dem Kind; also in welches Inhaltsfeld gehe ich mit welchen Schülern hinein, wobei natürlich das zentrale Profil der V-Pädagogik die Stärkung der Persönlichkeitsentwicklung, die Unterstützung bei Identitätsfindungsprozessen ist.

Ich muss also zu einer bewussten und reflektierten Auswahl und Gestaltung solcher Aktionen kommen, aber ich muss heute noch ein Stück weiter gehen, ich muss mitreflektieren: Was bedeutet das für das System, in dem das Kind lebt? Ich kann es eben nicht nur individualistisch für das einzelne Kind betrachten, bezogen auf seine Fähigkeiten und Entwicklungschancen.

Sie sprechen von Identitätsfindung und Persönlichkeitsentwicklung. Wenn man Hiller Glauben schenken darf, gibt es so etwas gar nicht, zumindestens nicht als etwas Einheitliches, Ganzes. Welche Lebensperspektiven, welche Identitätsmuster bedient Schule dann, wo verortet sich Schule da mit ihren Angeboten?

Da müsste man natürlich erst mal den Begriff Identität definieren. Den Begriff Identität klärt Hiller ja von den unterschiedlichen Rollen, von Tätigkeitsfeldern her. Ich bin eher ein Vertreter von einem individualpsychologischen Erklärungsansatz, also von der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie her kommend. Wenn wir den Begriff Identität in Bildungsplänen benutzt haben, z.B. im Gehörlosenbereich, so kam dies immer eher aus der tiefenpsychologischen Sichtweise, also Stärkung der Ich-Entwicklung, des Ichs und dies als Basis für unterschiedliche Ausführung von Rollen. Es geht dann bei den Schülern um solche Dinge wie Nein-Sagen-Können, Umgehen mit Nähe, Distanz, Grenzen, also durchgängige Momente der eigenen Persönlichkeitsstruktur.

Es gab Phasen, in denen diese unterschiedlichen Ansätze durchaus reibungsvoll in der E-Pädagogik diskutiert wurden, es gab ja auch Kollegen, die haben bei Hiller promoviert, und wurden im E-Bereich tätig, wie z.B. Werner Baur, der jetzt als Nachfolger von Herrn Herrmann Schulleiter an der Paulinenpflege ist, aber der Hillersche Ansatz hat keinen Raum in der E-Pädagogik gefunden. Das hat natürlich auch etwas zu tun mit der Diagnose der Störungen, die nicht primär gesellschaftlich orientiert angelegt wird, sondern eher individualpsychologisch. Es würde guttun, diesen Ansatz wieder stärker ins Blickfeld zu nehmen, aber ich gebe dem wenig Chancen, dass er in der klassischen Verhaltensgestörten-Pädagogik irgendwo eine Relevanz finden wird, bei Einzelnen schon, aber in der Regel nicht.

Zum Schluss ließe sich vielleicht noch sagen, dass es eine recht enge Verknüpfung zwischen solchen ep orientierten Ansätzen und institutionellen Veränderungsprozessen gibt. Oft haben solche Aktionen eine Vehikel-Funktion und bringen einen innovativen Prozess in Gang.

Soweit die Einschätzungen von Zweien, die es wissen müssen. Vermutlich wird es so sein, wie es Herr Stöppler sagt, dass EP nicht im Trend liegt. Vielleicht geben die Aussagen von Herrn Güntner aber gerade denen Mut, die EP trotzdem betreiben. Eines ist zumindest gewiss: Pädagogische Inszenierungen, die nicht auf einer Modewelle mitschwimmen, unterliegen einem erhöhten Rechtfertigungsdruck - aber das ist gut und nicht schlecht. Welche Hausaufgaben hierbei zu machen sind, hat Herr Stöppler deutlich benannt.

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