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2. Rundblick
 2.1. Schule        2.2. Jugendhilfe         2.3. Nachlese

Die Fragestellung dieses Kapitels lautet: Wie machen es andere? Was kann die Hannah-Arendt-Schule davon lernen?
Ich habe daher etliche Gespräche mit Personen in unterschiedlichen Institutionen Baden-Württembergs geführt. Sie entstammen den Bereichen Schule und Jugendhilfe und werden unter verschiedenen thematischen Fragestellungen präsentiert. Ich stelle darüber hinaus immer auch andere Aspekte mit dar, um ein möglichst lebendiges Bild der jeweiligen Institution zu präsentieren. Im Anschluss folgt noch eine „Nachlese“, bei der Fragen nachgegangen wird, die in mehreren Gesprächen angeschnitten wurden.
Die Zusammenfassung aller Gespräche, so wie sie hier abgedruckt sind, sind von meinen jeweiligen GesprächspartnerInnen gegengelesen worden.

Schulische Praxis aufzugreifen, ist Ziel dieser Arbeit. Zu bemerken ist jedoch, dass Schulen nur sehr vereinzelt Erfahrungen mit einer modernen EP gemacht haben, obwohl die klassische EP HAHNscher Prägung aus dem schulischen Bereich kommt. Bislang gibt es kaum Literatur, die solche Versuche systematisiert und zu praktischen Konzepten weiterentwickelt. Das Buch „Abenteuer Schule“, herausgegeben von Rüdiger GILSDORF und Kathi VOLKERT (1999) ist ein erster Anfang, wobei die vorgestellten Schulprojekte alle einem ähnlichen Umfeld entstammen und daher nicht die tatsächliche Pluralität der gelebten Varianten aufzeigen.
Eine Sonderform der Schule sind die so genannten Kurzschulen, in denen EP professionell betrieben und als Dienstleistung für Schule angeboten wird.

Im Jugendhilfebereich wurden breite Erfahrungen gesammelt und auch umfangreich wissenschaftlich reflektiert und evaluiert, z.B. von KLAWE und BRÄUER (1998). Das Klientel ist dem von E-Schulen oft ähnlich und so liegt es nahe zu prüfen, welche in der Jugendhilfe erprobten Modelle schulische Gestaltungsprozesse anregen können.
Darüber hinaus sind viele E-Schulen an eine Jugendhilfeeinrichtung angebunden, so auch die Hannah-Arendt-Schule, die in enger Verbindung mit dem Tagesgruppenbereich der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung junger Menschen - dem gemeinsamen Träger - steht. Diese besonderen Bedingungen, ihre Schwierigkeiten und ihre Chancen gilt es zu beleuchten.
 
 

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2.1. Schule
 2.1. Schule        2.2. Jugendhilfe         2.3. Nachlese

     2.1.1 Die Schule verlassen (Dieter Brodmann, Wilhelmsschule Bad Urach)
     2.1.2 Experten (Karin Zimmermann, GHS Altingen)
     2.1.3 Lebens- & Berufsvorbereitung (Roland Maier, Röhräckerschule Esslingen)
     2.1.4 Kooperation mit Regelschulen (Hr. Schwarz, Paulinenpflege Kirchheim)
     2.1.5 Gemeinwesenorientierung (Herr Herrmann, Bergerschule Stuttgart)
     2.1.6 Abenteuer oder Abenteuerspiel? (Gilsdorf, Volkert: Abenteuer Schule)
     2.1.7 Die Kurzschulen (Elisabeth Wolf, Leo Klimmer, albErgo Trochtelfingen)

Das in Schularten und Schulformen gegliederte Bildungssystem ist sehr facettenreich. Deshalb ist die Übertragung von Erfahrungen aus einer Schulform auf eine andere problematisch. Es ist zu vermuten, dass z.B. SchülerInnen, die aus den Regelschulen aussortiert werden, weil sie angeblich zu schwierig oder zu dumm sind, von den EP-Settings wie sie beispielsweise für ein Gymnasium arrangiert werden, wenig profitieren, weil ihre speziellen Belange (z.B. der qualifizierte Umgang mit wiederholtem Scheitern) dort nicht hinreichend berücksichtigt sind. Von daher liegt es nahe, zunächst den Schwerpunkt der Recherche nach schulischen EP-Projekten und EP-Erfahrungen auf Schulen für Erziehungshilfe, sowie auf Förder- und Hauptschulen zu beschränken. Dabei ist unterstellt, dass auch diese Schulen häufig mit Schülern umzugehen haben, die als schwierig bezeichnet werden und es wird vermutet, dass in diesen Schulen entsprechend adäquate Angebote erarbeitet wurden.

Doch auch bei einem solchen Vorgehen ist Vorsicht geboten: Zum einen handelt es sich lediglich um Vermutungen, die durch die Praxis vielleicht nur deshalb nicht widerlegt werden, weil es Schularten und -formen übergreifende EP-Lehr- und Lernarrangements nur selten gibt; die Erfahrungen aus den vorgestellten Kooperationsprojekten legen dies zumindest nahe. Zum anderen verengt sich u.U. der Blickwinkel derart, dass kaum Alternativen zur bisherigen Praxis sichtbar werden, die ja gerade gesucht werden. Es besteht die Gefahr, in den gewohnten Mustern des Verarbeitens schwieriger Situationen hängen zu bleiben.
 
 
 

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2.1.1. Die Schule verlassen
(Dieter Brodmann, Wilhelmsschule Bad Urach)

     2.1.1 Die Schule verlassen (Dieter Brodmann, Wilhelmsschule Bad Urach)
     2.1.2 Experten (Karin Zimmermann, GHS Altingen)
     2.1.3 Lebens- & Berufsvorbereitung (Roland Maier, Röhräckerschule Esslingen)
     2.1.4 Kooperation mit Regelschulen (Hr. Schwarz, Paulinenpflege Kirchheim)
     2.1.5 Gemeinwesenorientierung (Herr Herrmann, Bergerschule Stuttgart)
     2.1.6 Abenteuer oder Abenteuerspiel? (Gilsdorf, Volkert: Abenteuer Schule)
     2.1.7 Die Kurzschulen (Elisabeth Wolf, Leo Klimmer, albErgo Trochtelfingen)

Abbildung 3

Wer im Leben das Leben erlernen will, tut gut daran, die Schule zu verlassen. Lernorte außerhalb der Schulgemäuer sind ungleich spannender und motivierender. Mit SchülerInnen die Betätigungsmöglichkeiten in der Umgebung zu erkunden, ihnen Anregung zu einer Nutzung dieser Ressourcen zu geben, sie fit zu machen für eine "Freizeit umsonst" wie es Schulleiter Steimle nennt, das sind Aufgaben, die eine Schule mit ep orientierten Angeboten gut erfüllen kann. Dass dabei gerade die Dinge besonders haften bleiben und eine besondere Freude bereiten, bei denen große Herausforderungen zu bewältigen waren, vermittelt brauchbare Rezepte gegen einen langweiligen Alltagstrott.

         
"Natur ist unentrinnbar".

Ich spreche heute mit Dieter Brodmann. Er ist Lehrer an der Wilhelmsschule in Bad Urach. Die Förderschule liegt im historischen Kern des Städtchens in einem alten Gebäude. Die Flure sind behängt mit Fotos von Klassenfahrten, Projekten und sonstigen schulischen Highlights. Der Schulhof bietet einige Möglichkeiten der Bewegung, u.a. findet sich dort eine kleine Kletterwand. Die Stadt Bad Urach ist umzingelt von waldigen Hügeln mit Felsklippen, Höhlen und Burgen und diese Umgebung ist unser eigentliches Thema: Wie wird der schulnahe Raum genutzt und was hat sich daraus entwickelt?

Angefangen hat alles vor einigen Jahren, als Herr Brodmann eine sehr schwierige Klasse bekam. Er merkte, dass außerhalb der Klassenzimmer ganz anders gearbeitet werden konnte. Die damalige Klasse baute eine kleine Blockhütte, in der dann gekocht und übernachtet wurde und die zum Ausgangspunkt für Unternehmungen in der Natur wurde. Da er aktiver Wanderer und Kletterer ist, beim Alpenverein organisiert und mit der Fachübungsleiterlizenz Klettern ausgestattet, konnte er viele Impulse aus seiner eigenen Freizeitgestaltung in die Klasse hineinbringen.

Diese positiven Erfahrungen wurden dann systematisiert und weiterentwickelt, er wandte sich deshalb der EP zu. Innerhalb der EP verfolgt er einen situativen Ansatz, wie er u.a. von Martin Schwiersch (1996) im Buch: "Die Sprache der Berge" vertreten wird und von dem auch das Zitat der Überschrift stammt, welches für Herrn Brodmann ein Leitmotto darstellt. Soziales Lernen und Umweltbezug vermittelt sich über die konkrete Situation und die Herausforderungen, die dort gestellt werden. Er hegt die Hoffnung, dass den Schülern einige Übertragungen gelingen: Sich-verlassen-können (Klettern – Termine), Etwas-aushalten-können (schlechtes Wetter – schlechte Tage auf der Arbeit), Bedürfnisse aufschieben usw.. Konkrete Anhaltspunkte für die Berechtigung dieser Hoffnung hat er nicht.

Ganz konkret sichtbar hingegen ist die hohe Motivation seiner SchülerInnen und eine große Leistungsbereitschaft. Einige Schüler gehen mittlerweile auch "privat" zum Klettern, zwei sind der Bergwacht beigetreten.

Das Angebot findet in Form einer AG statt, welche etwa 14-tägig die Nachmittage gemeinsam gestaltet. Die AG ist ein Kooperationsprojekt mit dem Uracher Gymnasium; der Kollege dort ist Alpenvereinskamerad. Jeweils 5 Schüler der beiden Schulen können mitmachen, viel zu wenige in Anbetracht der Warteliste. Die Gruppe beginnt mit 7-Klässlern der Förderschule und 9-Klässlern am Gymnasium. Meistens bleiben die Schüler bis zum Schulabschluss in der AG, so dass immer nur einzelne nachrücken können und die Gruppe über mehrere Jahre recht stabil bleibt. Die Heterogenität hinsichtlich Alter, Erfahrung und kognitiver Leistungsfähigkeit hat sich dabei als fruchtbar erwiesen: Schüler lernen von Schülern. In den konkreten, körperorientierten Handlungsfeldern zeigen sich kaum Unterschiede zwischen den Gymnasiasten und den Förderschülern.

Die Gruppe macht Unternehmungen in der näheren Umgebung, zu Höhlen, Felsen und Burgen, wobei alle Ziele (schweißtreibend) zu Fuß erreichbar sind. Neben Klettern, das sich großer Beliebtheit erfreut, sind Übernachtungen im Freien oder in kleineren Höhlen mit Lagerfeuer und Schlafsack "das Größte": "Feuer muss dabei sein", wobei hier in Absprache mit dem Forstamt geeignete Plätze gewählt werden, um Schäden zu verhindern. Aber auch Staudämme werden gebaut und "in Bäche und Seen neigehupft". Nicht alle Aktionen sind behördlich genehmigt, so dass gelegentlich schon mal die Polizei oder der Jagdaufseher auftauchten; diese zeigten aber großes Verständnis für die Aktionen, wenn man sie ihnen erklärte. Die letzte Weihnachtsfeier fand mit Übernachtung in einer kleinen Holzhütte und mit Feuer im Schnee statt. Manchmal geht die Gruppe auf eine Selbstversorgerhütte des Alpenvereins, wo sie mithalf, einen Felsengarten mit geschützten Blumen zu errichten und dafür einen Preis des Umweltamtes gewann. Aber auch sonst gibt es dort immer etwas zu tun, Holz machen, putzen, reparieren, wodurch man eine Freiübernachtung herauswirtschaften kann.

Einmal im Jahr geht die Gruppe ins Gebirge, dieses Jahr z.B. zum Brüggler in der Schweiz, wo unter einfachen Bedingungen gehaust und natürlich geklettert wird. Die Elternbeiträge für diese 4-tägige Fahrt konnten mit DM 50.- sehr niedrig gehalten werden. Über die Jahre haben die beiden Schulen mit Hilfe der Zuschüsse, die das Schulamt für dieses Kooperationsprojekt gewährt, eine ansehnliche Materialsammlung erworben, die alles beinhaltet, was man zum Wandern, Biwakieren, Klettern und Skilanglauf braucht. Alle Kooperationsveranstaltungen, die eine Übernachtung beinhalten, finden mit Wochenendanbindung statt. Gerade Unternehmungen am Sonntag sind bei den Förderschülern außerordentlich beliebt. Den beteiligten Lehrern macht es nichts aus, am Wochenende zu arbeiten, obwohl die eine, für die AG gewährte Freistellungsstunde dies kaum ausgleichen kann.

Zusätzlich zu dieser Kooperations AG unternimmt Herr Brodmann auch mit seiner Klasse einiges draußen in der Natur. Er versucht die Schüler bereits in der Unterstufe an das Freiluftleben zu gewöhnen und steigert dabei die Herausforderungen im Laufe der Jahre. Das Thema Leben in der Urzeit z.B. versucht er möglichst lebensnah aufzugreifen und mit den Schülern ein wenig das Leben damals nachzuempfinden. Ein guter Anknüpfungspunkt für Entdeckungstouren bietet die Rulamann Sage, ein Roman, der das Leben in der Urzeit zum Thema hat, hineinversetzt in die Uracher Umgebung. Auch Schullandheime gestaltet er als aktive Unternehmungen: "Eine Woche nach Berlin fahren, das würde ich gar nicht aushalten".

Von der Schulleitung fühlt er sich voll unterstützt. Vor allem ist er froh, dass es keine formalen Hürden gibt, dass ganz spontane Unternehmungen möglich sind. Zwischenzeitlich betritt Herr Steimle, der Schulleiter, das Lehrerzimmer, wo wir unser Gespräch führen. Es sei sein "Geschäft, jemanden nicht am Arbeiten zu hindern". Er ermutige jeden, seine persönlichen Neigungen mit in den Schulbetrieb einzubringen und diese Dinge mit Freude und Sachkenntnis zu vermitteln. Er findet es besonders lobenswert, Schülern den Weg zu den einfachen Dingen zu weisen, gegen den allgemeinen Markt, hin zu einer "Freizeit umsonst".
 
 
 

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2.1.2. Experten
(Karin Zimmermann, GHS Altingen)

     2.1.1 Die Schule verlassen (Dieter Brodmann, Wilhelmsschule Bad Urach)
     2.1.2 Experten (Karin Zimmermann, GHS Altingen)
     2.1.3 Lebens- & Berufsvorbereitung (Roland Maier, Röhräckerschule Esslingen)
     2.1.4 Kooperation mit Regelschulen (Hr. Schwarz, Paulinenpflege Kirchheim)
     2.1.5 Gemeinwesenorientierung (Herr Herrmann, Bergerschule Stuttgart)
     2.1.6 Abenteuer oder Abenteuerspiel? (Gilsdorf, Volkert: Abenteuer Schule)
     2.1.7 Die Kurzschulen (Elisabeth Wolf, Leo Klimmer, albErgo Trochtelfingen)
 

Abbildung 4

Wer die Schule nach außen öffnet, tut dies in doppelter Weise: Hinaus in das Leben gehen und das Leben in die Schule holen. Die Zusammenarbeit mit Experten nimmt der Schule ihr "So-tun-als-ob". Wer mit Experten zusammenarbeitet, lässt Schule zu einer ernstzunehmenden Veranstaltung werden. Dies merkt man SchülerInnen an, wenn sie hochmotiviert sind, wenn sogar sonst ungeliebte Tätigkeiten im Rahmen eines solchen Projektes klaglos erledigt werden und wenn man sieht, mit welchem Stolz sie von den Ergebnissen einer solchen Arbeit berichten.

Aber auch die Lehrerschaft muss sich umstellen. Auf einmal ist man nicht mehr der Macher sondern derjenige, der organisiert, Termine abspricht, Material beschafft und sich der Fachlichkeit des Experten unterordnet, weshalb dies manche LehrerInnen auch nicht wollen, wie auch im Gespräch mit  Roland Maier  erwähnt; man lernt eine andere "Zugriffsart" kennen, wie Herr Herrmann   dies nennt. Die Experten erfreuen sich großer Beliebtheit. Die Lehrerin ist nicht gerade unbeliebt, aber sie ist "streng", wie es Karin Zimmermann von der Altinger Schule sagt, sie steht (auch) für Disziplin, Ordnung und Noten. Dieser Aspekt wird im Gespräch mit albErgo nochmals aufgegriffen.

Projektarbeit und Experten – das Credo der Altinger Schule

Die Altinger Schule ist eine Grund- und Hauptschule in einem Dorf 30 km von Tübingen, wobei sich meine Ausführungen nur auf die einzügige Hauptschule beziehen. Die Schule ist bekannt für ihr innovatives Konzept, das Altinger Konzept, welches im Buch "Weil sie wirklich lernen wollen" herausgegeben von Schulleiter Uli Scheufele (1997) plastisch dargestellt wird. Sie erhält Mittel von der "kleinen" Bosch-Stiftung, der "Stiftung für Bildung und Behindertenförderung", mit denen z.B. Experten bezahlt werden. Die Schule hat Modellcharakter und nicht unerhebliche Zeit wird in ihre Funktion als Multiplikator investiert: Lehrerfortbildungen, Pädagogische Tage etc.

Ich bin mit Karin Zimmermann verabredet, die dort seit vielen Jahren Lehrerin ist und mich zum Schulfest eingeladen hat. Am Rande des Dorfes finde ich die Schule, die parkenden Autos und der Geruch verkohlenden Grillgutes weisen mir den Weg. Ich komme gerade zur rechten Zeit, das Projekt Labyrinth wird vorgestellt: Trommeln, Vorführungen, Wortbeiträge. Am Schluss eine Dankesrunde der SchülerInnen an alle, die geholfen haben, das Projekt zu verwirklichen, und das sind eine ganze Menge, nicht zuletzt auch die Sponsoren: "Das Projekt ist beendet, das Schulfest ist eröffnet!" Ich finde Karin Zimmermann, die mich in ihre Klasse mitnimmt. Die Wände in Flur und Klassenzimmer sind mit Fotos aus dem aktuellen Projekt dekoriert, immer wieder kommen SchülerInnen, die ihren Eltern die nötigen Erläuterungen geben. Auf den Schultischen liegen die Projektmappen einer jeden SchülerIn. Am Lehrerpult machen wir es uns gemütlich, trotz des Festes nimmt sich Frau Zimmermann viel Zeit. Eigentlich müsse sie mir ja jetzt mindestens 300 Mark berechnen, dies sei ja so eine Art pädagogischer Tag. Sie habe es sich schon länger abgewöhnt, alles immer umsonst zu machen. Da ich Student bin, komme ich noch einmal so davon und investiere mein Geld in Muffins der Klasse 2b. Ich bleibe bis zum Abend, um mir das Theaterstück nicht entgehen zu lassen. Ich bleibe gerne, denn die Stimmung ist gut - es wird gelebt.

EP in der Altinger Schule findet im Landschulheim für 5 Tage bei albErgo statt. Die meisten Klassen fahren während ihrer Schulzeit zweimal dorthin. Die Ausführung wird dabei an albErgo, an die Experten in Sachen EP, abgegeben, wobei zuvor eine Absprache über das zu bearbeitende Thema und ein Austausch über die Ideen zur Umsetzung stattgefunden hat. Die LehrerIn gerät so in die Rolle der OrganisatorIn, anstelle der MacherIn. Dies ist nicht nur im Bereich EP so, sondern generell bei der Zusammenarbeit mit Experten in Projekten.

Dies hat mehrere Vorteile. Zum einen wären bestimmte Projekte überhaupt nicht durchführbar, da die Lehrenden gar nicht die nötigen Kompetenzen besitzen. Dies wird aber nicht als Manko betrachtet. Vielmehr sollen die SchülerInnen erfahren, dass auch Lehrende nicht alles wissen, dass sie aber wissen, wie und wo Wissen zu beschaffen ist. SchülerInnen erfahren Lehrende auch einmal als Lernende und darüber hinaus gerade bei ep Aktivitäten auch als Menschen, die mit ihren Ängsten und Unsicherheiten zu kämpfen haben.

Zum anderen haben Außenstehende andere Möglichkeiten, nahe an die SchülerInnen heranzukommen, sie zu begeistern, sie zu motivieren. "Ich bin die Lehrerin, ich bin streng...". Die LehrerIn steht eben auch für Struktur, Disziplin, Alltag und natürlich auch für Noten.

Die ep Schulandheimfahrt ist in ein Projekt eingebunden, z.B. Projekt Schwäbische Alb, wie im erwähnten Buch beschrieben, oder Baum, Fledermaus, etc.. Hier hat EP die Aufgabe, Inhalte praktisch und leiblich erfahrbar zu machen, neue Zugänge zu einem Thema zu ermöglichen oder für bestimmte Aspekte zu sensibilisieren. U.U. hat zuvor neben einer schultypisch abstrakten Bearbeitung des Themas auch eine leiborientierte Vorarbeit stattgefunden: Rhythmik spielt in Altingen und dort v.a. in den Projekten eine wichtige Rolle; so wurde das Projektthema Höhlen und Karsterscheinungen im Fach Rhythmik durch die Auseinandersetzung mit dem Thema Enge & Weite vorbereitet, welches dann bei einer Höhlenbefahrung seine größte Intensität erlangte.

Einen neuen Ansatz stellte die Schullandheimfahrt des letzten Jahres dar: Erstmals mit Klasse 5, ziemlich zu Beginn des Schuljahres durchgeführt, eingebunden in das Projekt Labyrinth, welches gemeinsam mit der 6. Klasse durchgeführt wurde, war das Thema der Fahrt: Wege suchen - Wege finden, eigene Wege, Wege mit anderen, Wege im Team; die SchülerInnen selbst waren also das Thema. Die Idee war entstanden, da die Klassensituation gekennzeichnet war durch Vereinzelung, durch die Erfahrungen von Brüchen und Enttäuschungen. Die SchülerInnen müssen erst ein konstruktives Verhältnis zu ihrer neuen Situation gewinnen, in der viele ihrer Grundschulfreunde auf andere Schulen gehen und sie sich als die Übriggebliebenen, als Versager vorkommen. Es wurde daher versucht, mit Hilfe von EP die SchülerInnen in dem, was sie können, zu stärken und ein Zusammenkommen zu erleichtern. Die Schwierigkeiten der Klasse wurden mit zu albErgo getragen, so dass dort viele der Aufgaben große Hindernisse darstellten. Es konnte aber der Impuls weitergegeben werden, dass es sich lohnt, Probleme gemeinsam anzugehen; mittlerweile finden sich zahlreiche Ansätze zu einer neuen Klassenkultur.

Dies ist ein Thema, das zunehmend an Wichtigkeit gewinnt, die Erziehung zu Verantwortung und Gemeinschaft, da die Kinder und Jugendlichen mit steigender Tendenz "egozentrisch, verwöhnt und hedonistisch" sind.

In ähnliche Richtung tendiert die Idee, mit der Abschlussklasse ein Projekt durchzuführen, um den Abschied von der Schule, die Reflexion der gemachten Erfahrung und den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt, auch hier möglicherweise unter Einbeziehung von EP, zu bearbeiten.

Derzeit gibt es Überlegungen ein gestuftes, auf die jeweilige Klassenstufe zugeschnittenes ep Programm zu entwickeln, um die Möglichkeiten der EP zielgenauer nutzen zu können und um eine stärkere Verbindung der Projekte durch die Schulzeit hindurch zu erzeugen.

Damit die ep Klassenfahrten finanzierbar bleiben, versorgt sich die Klasse selbst mit Lebensmitteln, wobei die gesamte Organisation der Beschaffung von den Eltern übernommen wird, von denen viele Gärten haben, aus denen sie etwas beisteuern. So wird ein Preis von DM 180.- für einen 5-tägigen ep Schullandheimaufenthalt erzielt, der in Härtefällen durch einen schulischen Fonds gesenkt werden kann.

Projektarbeit und Arbeit mit Experten, das sind zwei wichtige Pfeiler der Arbeit in Altingen: Wird ein Garten angelegt, so arbeitet man mit einem Gärtner zusammen, beim Theater mit "echten" SchauspielerInnen und DramaturgInnen, je nach Aufgabe mit KünstlerInnen, MusikerInnen und HandwerkerInnen. Bis zur 8. Klasse findet jährlich ein Projekt statt, wobei dies große Projekte sind, welche sich u.U. über ein ganzes Schuljahr hinziehen und sicherlich nicht mit einer Projektwoche an anderen Schulen zu vergleichen sind. Die KlassenlehrerIn sollte möglichst viele Fächer selber unterrichten oder mit "hoch belastbaren" Kollegen zusammenarbeiten. So können bis zu 10 Fächernoten aus einem Projekt gewonnen werden und seit neuestem kann auch eine Projektnote gegeben werden. Die Notengebung stellt sich als "zusätzlicher motivationaler Anreiz" dar. In der 5. Klasse haben die SchülerInnen fast keine realistische Selbsteinschätzung, - nicht nur was die Schulnoten angeht - was sich aber im Laufe der Jahre dahingehend ändert, dass in den höheren Klassen die Selbsteinschätzung von der der LehrerIn höchstens um eine halbe Note abweicht.

Weil Altingen eine "gute Schule" ist, findet fortwährender Wandel statt. Letztes Jahr beschlossen die SchülerInnen der 7. Klasse im Rahmen ihres Theaterprojektes nicht, wie bisher üblich, eine Geschichte o.ä. darzustellen, sondern ihre eigenen wichtigsten Themen auf der Bühne darzustellen: Kumpels und Freundinnen, Eifersucht und Trauer u.v.m. In Workshops wurden von den SchülerInnen einzelne Szenen dargestellt, die dann von einer Theater-Dramaturgin zu einem Bühnenstück verarbeitet wurden. So entstand das Stück "Endlich 14", welches nicht mit besonders schönen und aufwendigen Bühneneffekten, wohl aber durch die Wahl des Themas und seine Aufbereitung begeistern konnte.

Durch dieses Theaterstück inspiriert, griff auch die jetzige Klasse 7 erneut ein "modernes" Thema auf. Sie wandte sich dem Projektthema der Klassen 5 & 6 "Labyrinth" zu, und inszenierten ihr Stück "Drüber, drunter und durch". Es ist eine moderne Geschichte verflochten mit der Sage des Minotaurus und handelt von Mauern, über die man nicht schauen oder gar klettern darf, Mauern zwischen Jungen und Mädchen, zwischen Bekanntem und Neuem; es handelt von Neugier und Angst, von Kampf, Gewalt und natürlich der Liebe.

Ich hatte die Gelegenheit, das Stück beim Schulfest zu sehen und konnte hier und während des ganzen Festes eine Stimmung miterleben, die getragen wird durch eine außerordentlich hohe Identifizierung mit der Schule von Seiten der SchülerInnen, der Eltern und der LehrerInnen, die zudem sehr viel ihrer Lebensenergie in "ihre" Schule investieren.

Die LehrerInnen werden bei dieser Arbeit z.T. bis an den "Rand ihrer Kräfte" gebracht. Obwohl gewisse inhaltliche Teile an Experten abgegeben werden, ist der organisatorische Aufwand, die Zeitabsprachen etc. enorm. Dies kann bisweilen auch zu Konflikten im Kollegium führen, welche in Altingen mit Hilfe von Supervision bearbeitet werden. Dennoch ist die Fluktuation des Stammpersonals quasi gleich null, viele LehrerInnen sind schon seit 20 Jahren in Altingen und "extrem belastbar". Die Zuweisungspraktik, welche es seit einem Jahr so nicht mehr gibt, brachte zusätzliche Probleme ins Kollegium. Die "Alten" stellen sich ohnehin als eine fast "geschlossene Gesellschaft" dar, in der auch privat viel gemeinsam läuft, und in die die "Neuen" nur hinkommen können, wenn sie von sich aus aktiv werden und sich einbringen. Bei dem jetzt möglichen Bewerbungsverfahren, werden die Ansprüche an BewerberInnen entsprechend formuliert.

Der Motor für diese Kraftakte ist zum einen der Drang, auch selber immer wieder neue Erfahrung machen, von Experten lernen zu wollen, sich weiterzuentwickeln statt sich zu langweilen. Zum anderen hängt dies mit der Erfahrung zusammen, dass SchülerInnen, gerade schwache, stille oder außenstehende, bei albErgo oder beim Theater ganz anders erlebt werden, dass hier Kompetenzen zum Tragen kommen, die im Schulalltag nicht sichtbar werden, dass SchülerInnen die LehrerInnen begeistern können.

In einer "guten Schule" gibt es nicht nur mehr Chancen, auch das Risiko ist ungleich höher; dies um so mehr, wenn das Projektthema "Labyrinth" heißt. Die Theatergruppe hatte bis wenige Stunden vor der Aufführung den Ausgang nicht gefunden, so musste ein kurzfristig einstudierter Abschluss-Rap das Stück zu einem Ende führen. In einem Labyrinth gibt es aber auch Irrwege, die in eine Sackgasse führen: Im Laufe des Projekts entstand die Idee, eine Kletterwand auf dem Schulhof zu bauen: Wege suchen – Wege finden. SchülerInnen sollten dort die Möglichkeit erhalten, klettern zu lernen, sowie einen Kurs in Sicherungstechnik zu durchlaufen, welcher mit einer Abschlussprüfung enden sollte. Es wurden Sponsoren gefunden, ein Experte in Sachen Kletterwand, die Wand wurde nicht nur mit Löchern für Griffe versehen, die Eltern mit SchülerInnen bohrten, sondern wurde auch noch künstlerisch gestaltet: Grafitti – Paintbrush, nach Zeichnungen von SchülerInnen in Zusammenarbeit mit einem Künstler. Doch der Experte war keiner, er hatte die Planung ohne den Statiker gemacht. Alles musste neu berechnet, neu geplant werden. Nun kann die Wand nur bis zu einer Höhe von drei Metern mit Griffen bestückt werden, keine Seile, kein Sicherungskurs, keine Abschlussprüfung. Die Schule macht das Beste aus der neuen Situation: Klettern in Absprunghöhe ist ohnehin ungefährlicher, auch wegen der Aufsichtspflicht... Dennoch kosten solche Irrwege viel Energie – ein Labyrinth hat eben seine Tücken!

Zum Abschluss verrät Karin Zimmermann, was sie als wichtig für den Reformprozess einer Schule erachtet:


 

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2.1.3. Lebens- & Berufsvorbereitung
(Roland Maier, Röhräckerschule Esslingen)

     2.1.1 Die Schule verlassen (Dieter Brodmann, Wilhelmsschule Bad Urach)
     2.1.2 Experten (Karin Zimmermann, GHS Altingen)
     2.1.3 Lebens- & Berufsvorbereitung (Roland Maier, Röhräckerschule Esslingen)
     2.1.4 Kooperation mit Regelschulen (Hr. Schwarz, Paulinenpflege Kirchheim)
     2.1.5 Gemeinwesenorientierung (Herr Herrmann, Bergerschule Stuttgart)
     2.1.6 Abenteuer oder Abenteuerspiel? (Gilsdorf, Volkert: Abenteuer Schule)
     2.1.7 Die Kurzschulen (Elisabeth Wolf, Leo Klimmer, albErgo Trochtelfingen)
 

Abbildung 5

Schule soll Anschluss an gesellschaftliche Systeme herstellen. Meistens steht dabei das Beschäftigungssystem im Mittelpunkt. Es gibt daher in den letzten Jahren eine Reihe von Initiativen in dieser Richtung. Das Projekt Praktisches Lernen ist hier in Baden-Württemberg an erster Stelle zu nennen. Die Gründung von Schülerfirmen, das Einüben von Techniken der Lebensorganisation, des Finanz- und des Zeitmanagements und ähnlicher nützlicher Dinge sollen für ein Leben in Verhältnissen fit machen, deren Regeln von anderen bestimmt werden und in denen es zu bestehen gilt.

Im nachfolgenden Gespräch werden die Chancen einer ep orientierten Berufsvorbereitung dargestellt. Die Antizipation der Probleme der Zukunft gelinge mit EP besser, weil aktuelle und konkrete Herausforderungen im Hier und Jetzt angegangen werden und SchülerInnen so Problem- und Konfliktlösungsstrategien erlernen. Der Transfer in den Alltag wird mit inneren Bildern, mit Metaphern vorbereitet. Dieses ep Grundprinzip wird auch im Gespräch mit Jürgen Mall nochmals aufgegriffen .

"Lebenspraktisches Lernen bleibt abstrakt, weil die Probleme noch weit weg sind. Mit Erlebnispädagogik lassen sich viele relevante Berufssituationen vorbereiten."

Roland Maier ist Sonderschullehrer an der Förderschule der Rohräckerschule in Esslingen. Ich besuche ihn zu Hause. Mein Interesse konzentriert sich auf zwei Themenkomplexe, von denen der eine – Berufsvorbereitung – bereits durch die Überschrift benannt wurde und der andere die Situation einer kleinen Gruppe von Überzeugungstätern an einer ansonsten eher unbeweglichen staatlichen Schule beleuchten will.

Roland Maier ist Anfang vierzig und hat sich an seiner Schule als Einzelkämpfer auf den Weg gemacht. Unterdessen hat er unter den KollegInnen ein paar MitstreiterInnen gefunden. Von der Schulleitung war er zu Anfang enttäuscht, da von dort wenig Resonanz oder Unterstützung kam, aber immerhin lässt sie ihn gewähren, obwohl sie eigentlich EP als einen gewissen Luxus, als Spiel betrachtet. Unterdessen ist er davon abgekommen, andere von EP überzeugen zu wollen, er macht EP für seine SchülerInnen und für sich. Neben den Aktionen, die er mit seiner Klasse durchführt, bietet er mit einem Kollegen eine Freizeit AG an, die mehr als gut nachgefragt wird. "Missionieren möchte ich nicht" und das braucht er auch nicht, da die SchülerInnen selber solche Aktivitäten einfordern: "Unter den Schülern wird viel geredet, was man als Lehrer oft nicht beachtet" und sie setzten dann ihre LehrerInnen z.T. regelrecht unter Druck. Früher war das "Gejammer", dass die SchülerInnen nicht wollen, nicht können und so schwierig sind, jetzt fühlen sich manche Lehrer bedrängt von SchülerInnen, die wollen, weil sie können.

Vor 5 Jahren war EP noch ein Schimpfwort – heute haben viele LehrerInnen gemerkt, dass diese Dinge den Kindern Spaß machen, und dass etwas bewegt wird, bei den Kindern und in der Gruppe. So wurde vielfach beobachtet, wie ängstliche SchülerInnen Aktionen durchstehen, die sie sich selber und andere ihnen nicht zugetraut hätten. Auch die Klassenstruktur verändert sich: Die mit der "großen Klappe" geraten auch mal in Situationen, in denen sie ihre Angst nicht verbergen, nicht überspielen können und umgekehrt meistern manchmal gerade die "stillen Mäuschen" die großen Herausforderungen. So können SchülerInnen erfahren, dass "jeder etwas kann", Beziehungen entstehen, auch zu den LehrerInnen, die als Privatpersonen erlebt werden: "müde, muffelig, mit der gleichen Angst, dem gleichen Schweiß". Und: "Ich hab gar nicht gewusst, dass Lehrer lachen können", so ein Schüler. Zu solchen Beziehungen gehören auch Körperkontakte: Hand geben, Schulter klopfen, aber auch mal festhalten oder "verschütteln". SchülerInnen können erfahren, dass ihre Schwierigkeiten, Probleme und Sorgen aufgegriffen und ernst genommen werden. So wird ein "emotionales Feld" bereitet, welches überhaupt erst eine Basis für Unterricht in klassischem Sinne bietet.

Immer mehr LehrerInnen probieren neue Wege aus, wobei diese nicht alle EP sind. Aber EP hat einen "Stein ins Rollen" gebracht, einen innovativen Geist in der Schule entstehen lassen. Mittlerweile gibt es einen Beschluss der Oberstufenkonferenz, dass Klasse 7 einen Schullandheimaufenthalt mit ep Inhalten durchführen soll. Die Zusammenarbeit mit Profis ist dabei nicht von allen erwünscht, weil: "Als Lehrer will man sich nicht unterordnen". Die Mehrheitsverhältnisse ändern sich, aber die Fronten bleiben hart, es gibt einen Dissens an der Schule: Kulturtechniken vs. EP, und der Kulturtechnikfraktion gehören mehr als 50% des Kollegiums an, von denen viele seit Gründung der Schule vor 25 Jahren dort sind.

Für Roland Maier haben viele seiner Aktivitäten ihre Wurzeln in der EP. Die "Highlights", die gemachten Erlebnisse, die neuen Beziehungen, versucht er in der Schule wieder aufzugreifen. Als Medien nutzt er auch die Möglichkeiten von Rollenspielen und Theater, in Zusammenarbeit mit einer Theaterpädagogin und mit Proben auf der Bühne des Theaterhauses, und von künstlerischem Gestalten: "40 Meter Kunst" hat er mit seinen SchülerInnen und durch Mithilfe des Künstlers und Musikers Wessely produziert: eine Wandgestaltung zum Thema Kommunikation.

"Vertrauen braucht länger als drei Jahre" meint Roland Maier, weshalb er eine Klasse von der 2. Klasse bis zum Abschluss begleitet hat, viele Schullandheime, viel EP. Einige haben die Hauptschulabschlussprüfung abgelegt, sind aber im Klassenverband geblieben. Die Klasse trifft sich auch heute noch gelegentlich. "Wie miteinander umgehen, wie füreinander sorgen – das war gelernt" sagt er und misst der EP beim sozialen Lernen einen hohen Stellenwert bei.

Mit seiner neuen Klasse musste er erfahren, dass es schwierig werden kann, wenn man in ep Felder hineingeht ohne ein solides Vertrauensverhältnis: "Manch einer gibt sich schon eine Blöße" und das kann u.U. mehr sein, als auszuhalten ist; er hat das erlebt bei einem Jugendlichen, als die Maske gefallen ist und er ausgerastet ist, nach Hause wollte, "alles Scheiße". Aber auch solche Situationen gemeinsam zu bestehen und durchzustehen, schafft Beziehung.

In der beruflichen Orientierung und Vorbereitung gab es kaum Probleme und alle sind gut untergebracht. Hier kommen nun seiner Meinung nach die besonderen Möglichkeiten von EP zum Tragen.

Zum einen wird durch ep orientierte Fahrten eine Beziehungsstruktur geschaffen, die es dem Lehrer möglich macht, SchülerInnen "persönlich anzugehen". Bei solchen Fahrten werden oft in besonderer Weise die (verborgenen) Kompetenzen aber auch die Probleme deutlich. Hieran kann ganz gezielt und individuell angeknüpft werden.

Das andere ist die Vorbereitung auf die Lebens- und Berufswirklichkeit. In der Schule wurde mit Materialien aus dem Hause Hiller experimentiert, aber es gelang nicht, die erwünschten Effekte zu erzielen: Ein Lebensordner wurde zwar angelegt, aber bis er wirklich gebraucht wurde, waren die Hälfte der Blätter schon wieder verschwunden. Der Kaufvertrag für das Auto wurde zum Unterrichtsgegenstand, das (vielleicht) erworbene Wissen war aber in der Ernstsituation nicht mehr abrufbar, der entsprechende Zettel unauffindbar. Als der Kaufvertrag Thema war, haben die SchülerInnen ihr Geld zum Kiosk oder in die Kneipe getragen, wo man bestenfalls einen Kassenzettel bekommt. Die Vorausschau in die Notwendigkeit, Dinge zu erlernen, die später einmal wichtig werden, war bei den SchülerInnen nicht vorhanden und nicht zu erzeugen.

EP stellt SchülerInnen vor Probleme, wie sie typischerweise in Berufsfeldern auftreten und an denen sie oft zu scheitern drohen: etwas durchhalten, den "inneren Schweinehund" überwinden, sich etwas zutrauen, mit nicht selbst ausgesuchten Menschen klarkommen und kooperieren, (Spiel-)Regeln akzeptieren etc. Die Bearbeitung solcher Themen, z.B. mit Hilfe von Abseilen oder einer Expedition, erzeugt (emotional) tiefsitzende und doch ganz konkret fassbare Bilder, die in späteren Situationen wieder abgerufen werden können; solche Bilder lassen sich transportieren, darauf kann ganz persönlich angesprochen werden.

In diesen beiden Komponenten, Beziehung und Bilder, sieht Roland Maier den Erfolg einer ep orientierten Berufsvorbereitung.

Die Schule hat auch Experimente mit der Einbindung in Vereinstätigkeiten unternommen. Dort traten jedoch schnell gravierende Probleme auf. Im Fußballverein scheiterten die SonderschülerInnen oft an den intellektuellen Herausforderungen eines Fußballspieles (Strategie, Übersicht über Spielverlauf), so dass sie schnell auf der Reservebank landeten und damit auch schnell die Lust am Training verloren.

Im Kanuklub gab es Probleme mit sehr unsensiblen Ausbildern, die nur die Leistungsbrille aufhatten und nicht in der Lage waren, eine gewisse Integrationsfunktion zu übernehmen. Die SchülerInnen fühlten sich ohnehin etwas unwohl, hatten das Gefühl, sie werden nur als Sonderschüler angesehen. Als sie dann von den Ausbildern überhaupt nicht beachtet wurden, kamen sie sich deplaziert vor und verließen alsbald den Verein.

Finanziell gibt es bei den Fahrten keine nennenswerten Schwierigkeiten. Durch Selbstversorgung, Lebensmittelspenden der Eltern, kleinere Einnahmen der Klasse (Brötchenverkauf auf dem Schulhof u.ä.) sowie Spenden von Betrieben können die Kosten bei DM 150.- bis 200.- gehalten werden. In einem Jahr konnte das Sozialamt überzeugt werden, für mehrere Kosovo-Albaner in der Klasse ordentliche Zuschüsse zu gewähren. Zu billig sollte eine solche Fahrt aber auch nicht sein, dann sinkt die Wertschätzung. Die Selbstversorgung hat neben den finanziellen Einsparungen natürlich auch pädagogische Intentionen.

Problematischer als Geldbeschaffung – "Du findest immer irgendwo etwas" – ist die Terminplanung mit professionellen Anbietern. Termine müssen oft 2 Jahre im voraus vereinbart werden, sind zudem überhaupt schwer zu bekommen und Terminwünsche haben fast gar keine Chance. Die erfolgreichen Anbieter in diesem Bereich können sich vor Angeboten kaum retten.

Wer EP wirksam nutzen will, muss sich auch im klaren sein, dass man so etwas nur machen kann, "wenn man nicht nur eine Klasse, sondern auch eine Gruppe hat – und einen Kollegen oder eine Kollegin, die mitzieht und sich nicht vor Überstunden scheut".
 
 

Was empfiehlt Roland Maier den Kollegen an der Hannah-Arendt-Schule?


 

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2.1.4. Kooperation mit Regelschulen
(Hr. Schwarz, Paulinenpflege Kirchheim)

     2.1.1 Die Schule verlassen (Dieter Brodmann, Wilhelmsschule Bad Urach)
     2.1.2 Experten (Karin Zimmermann, GHS Altingen)
     2.1.3 Lebens- & Berufsvorbereitung (Roland Maier, Röhräckerschule Esslingen)
     2.1.4 Kooperation mit Regelschulen (Hr. Schwarz, Paulinenpflege Kirchheim)
     2.1.5 Gemeinwesenorientierung (Herr Herrmann, Bergerschule Stuttgart)
     2.1.6 Abenteuer oder Abenteuerspiel? (Gilsdorf, Volkert: Abenteuer Schule)
     2.1.7 Die Kurzschulen (Elisabeth Wolf, Leo Klimmer, albErgo Trochtelfingen)
 

Abbildung 6

Die Kooperation von Sonderschulen mit allgemeinen Regelschulen gibt es an etlichen Schulen in Baden-Württemberg. Entsprechende Begegnungsveranstaltungen werden durch die Schulämter bezuschusst. Offensichtlich gibt es zwei Linien bei schulischen Begegnungsveranstaltungen. Die erstere betont die Gleichheit: Jugendliche aus verschiedenen Schule begegnen sich; sie stellen fest, dass der eine dies, der andere jenes besser kann, im Großen und Ganzen gleichen sich diese Unterschiede so aus, dass eine Gemeinschaft der Gleichen entsteht: verschwitzt, dreckig, mutig und unternehmungslustig. Meist werden solche Veranstaltungen mit gleichen Jahrgangsstufen veranstaltet. Beziehungen, die hier entstehen, sind Freundschaften von in etwa Altersgleichen auch über gesellschaftliche Schichtungen hinweg. Sie haben dann eine Chance, langfristig zu bestehen, wenn ein gemeinsames Sachinteresse im Vordergrund steht.

Die andere Linie betont die Unterschiede: Ältere GymnasiastInnen betreuen jüngere SonderschülerInnen. Gegenseitig wird man faszinierender, doch unendlich fremder Lebenswelten gewahr. Die Reichen und Gebildeten bekommen eine erhöhte Verantwortung übertragen, Beziehungen, die hier entstehen, sind höchst ungleichgewichtig. Sie können sich zu langfristigen Verbindungen auswachsen, in denen die Älteren den Status von Vertrauenspersonen einnehmen, die andere Möglichkeiten der Beratung und Unterstützung in heiklen Lebensabschnitten besitzen, als dies bei Bekannten und Verwandten aus dem Umfeld von SonderschülerInnen üblicherweise der Fall ist.

In der Bergerschule  sind Ansätze zu diesem zweiten Modell verwirklicht, ebenso ist dies in abgewandelter Form in der Paulinenpflege der Fall. Der Aspekt der langfristigen persönlichen Beziehung scheint mir aber noch nicht deutlich herausgearbeitet zu sein.
 

"Aus Fremden werden Partner"

Heute treffe ich mich mit Herrn Schwarz. Er ist Sonderschullehrer und Konrektor der Schule für Erziehungshilfe an der Paulinenpflege in Kirchheim / Teck.

Die Schule für Erziehungshilfe an der Paulinenpflege ist eine öffentlich anerkannte Schule in privater Trägerschaft. 117 SchülerInnen werden von 26 LehrerInnen nach den Bildungsgängen Grund-, Haupt- und Förderschule unterrichtet.

Herr Schwarz ist Jahrgang 1941 und hat die erlebnispädagogische Arbeit gemeinsam mit Herrn Herrmann, dem damaligen Rektor, aufgebaut. Der jetzige Schulleiter Werner Baur führt diese Arbeit fort und hat die Erfahrungen der Kooperationsprojekte jüngst unter dem Titel des Eingangszitates (1999) veröffentlicht. Neben dem Schwerpunktthema Kooperation, erzählte Herr Schwarz noch eine interessante kleine Geschichte zum Thema Zwang - Freiwilligkeit.

"Machen wir uns nichts vor, die Zahl der hochgradig, tief und psychisch gestörten Schüler ist wesentlich höher als früher", meint Herr Schwarz und lässt mich wissen, dass sich die Kinder der Paulinenpflege nicht mit einem traditionell allgemeinbildenden Unterrichtsangebot alleine zufriedenstellen lassen und dies in zunehmenden Maße.

Die Schule gibt es bereits seit der Gründung der Paulinenpflege im Jahre 1826. Aufgabe war die Vermeidung "unnützer Fresser"; Kinder sollten lernen, ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen. Sie lernten dies nicht nur, sie leisteten ihren konkreten Beitrag in der eigenen Landwirtschaft. Mittlerweile wurde die Landwirtschaft abgeschafft und die Kinder damit der Möglichkeit praktischer Erfahrung beraubt.

1993 begann die Schule mit erlebnispädagogisch orientierten Fahrten in Form von Kooperationsprojekten, welche im Rahmen des Modellversuchs "Gemeinsam Handeln - Einander Erleben" mit ca. DM 10.- pro Tag und TeilnehmerIn finanziell unterstützt wurde. Die KooperationsschülerInnen sind meist einige Jahre ältere GymnasiastInnen. Mittlerweile werden jedes Jahr zwei Fahrten unternommen, immer in das gleiche Haus im Klein-Walsertal: "Die sind inzwischen Kummer gewöhnt. Mit E-Schülern können sie nicht in irgendein Haus gehen, dann waren sie nur einmal da; auch hier braucht man Kooperationspartner".

Im Winter steht Skifahren, alpin und nordisch, im Sommer Bergwandern, Klettern und Schluchtüberquerung auf dem Programm. Die fachliche Anleitung beim Klettern und gefährlichen Seilmanövern übernimmt ein Bergführer der lokalen Bergschule. Dieser erhält DM 40.- pro Tag und TeilnehmerIn. Für die Unterkunft fallen noch einmal DM 35.- an. Der Beitrag für die SchülerInnen beläuft sich auf DM 220.-.

An der Schule ist mittlerweile eine recht gut sortierte Skisammlung aus "Altbeständen" von LehrerInnen zustande gekommen, von denen einige sehr gute SkifahrerInnen sind. Auch ein kleiner Bestand an Klettermaterialien ist angeschafft worden.

Die personelle Besetzung darf nicht zu knapp sein. Bei einer Gruppe von 15 + 15 SchülerInnen der Paulinenpflege und der Kooperationsschule braucht es mindestens 5 BegleiterInnen: Für viele Unternehmungen findet eine Aufteilung der Gruppe statt, so dass je 2 Lehrkräfte pro Gruppe plus eine Person als Notfall- und Krankenwache benötigt werden.

Einige der guten Erfahrungen sind im erwähnten Aufsatz beschrieben (Baur 1999)

"Neugierig und auf das Schlimmste vorbereitet stiegen wir in den Bus" so zwei Gymnasiasten (ebd. S.90), doch nach 4 Stunden anstrengendem Hüttenaufstieg waren alle gleich verschwitzt und bereits viele Vorurteile abgebaut.

Die Erfahrung, in den verschiedenen "Abenteuern" zu bestehen, erfolgreich zu sein, wobei auf sportlichem Gebiet die E-Schüler durchaus nicht unterlegen sind, dürften "für das Selbstwertgefühl von Heranwachsenden, die auf schulischem Gebiet ansonsten die wiederholte, oft ausschließliche Erfahrung des Scheiterns und Nicht-Mithalten-Könnens gemacht haben, von enormer Bedeutung sein". (ebd. S.91)

Solche Unternehmungen bieten die Chance, von einem Lehrer zu einem "Mensch des Vertrauens" zu werden. Gerade in "brenzligen" Situationen können LehrerInnen, aber auch MitschülerInnen, als zuverlässig und berechenbar erlebt werden – eine Sache die E-SchülerInnen daheim oft nicht so erleben.

Wenn sich SchülerInnen auch mal als die erleben, die etwas können, vielleicht sogar etwas, was der Lehrer nicht kann, ist dies eine Art sich wieder der Normalität zu nähern.

Bei den Gymnasiasten wurden bewusst OberstufenschülerInnen ausgewählt: "Je größer der Altersunterschied um so weniger kommt das Problem der Konkurrenz auf. ... Die Vorbildfunktion der Älteren tritt in den Vordergrund" (ebd. S.93).

Die E-SchülerInnen gaben sich auch besondere Mühe: "Man wollte ja nicht gleich sein "Gesicht verlieren" – und den jungen Damen gegenüber schon gar nicht. [...] Das war gut, auch wenn sich meine Schüler manchmal abends austoben mussten" (ebd. S.92).

Im Eduard-Spranger-Gymnasium wurde u.a. mit einem Lehrer kooperiert, der bei der Bergwacht aktiv ist und an seiner Schule eine AG Klettersport anbietet. Wer einmal mit auf Fahrt war, will immer wieder mit. Etwa 2 – 3 Jahre wird hintereinander mit der gleichen Gruppe gefahren, so dass sich Erfahrungen und Beziehungen aufbauen konnten. Es gibt auch Nachtreffen, wo Bilder gezeigt und ausgetauscht werden oder ein gemeinsamer Ausflug unternommen wird.

Im Gymnasium entstand aufgrund der gemachten Erfahrungen eine AG Sozial- und Sonderpädagogik; des öfteren bewerben sich AbgängerInnen des Gymnasiums in der Paulinenpflege als Zivis, für das FSJ oder für eine Ausbildung im sozial- oder sonderpädagogischen Bereich.

Seit 1996 nehmen zwei Jugendpolizisten an solchen Fahrten teil. Dabei können gravierende Vorurteile abgebaut und bisweilen sogar Freundschaften aufgebaut werden.

Von seiten der LehrerInnen wird ein hohes persönliches Engagement gefordert: "Wir finden immer Kollegen, die mitgehen, aber wir fragen nicht nach der Zeit". Stunden zählt niemand, einen Freizeit- oder Finanzausgleich gibt es nicht. Doch der Einsatz lohnt sich: "Man kriegt auch viel zurück!" Dennoch sollte eine LehrerIn bei so einer Entscheidung auch die eigene Familiensituation berücksichtigen, damit er/sie mit gutem Gewissen von zu Hause weggehen kann.

Die "Highlights" haben dem Kollegium den "Kick" gegeben, Neues auszuprobieren, auch mal kleinere Sachen zu machen z.B. ein paar Tage auf die Alb. Auch das Verhältnis der Kollegen untereinander hat sich spürbar verbessert. Der "Ton im Haus" hat sich geändert, es gibt mehr Vertrauen und Toleranz.

Herr Schwarz gesteht, dass nicht immer alles "pädagogisch" war: Bei einer Bergtour haben sich zwei Schüler entschlossen, nicht mehr weiterzugehen. Herr Schwarz lief als "Lumpensammler" hinterher, der Kontakt zu den anderen war abgebrochen. Mit Hilfe von Weidenruten wurden die beiden Jungen zum Weitergehen veranlasst. Jahre später ist er dem einen wiederbegegnet: "Das vergess ich nie, wie Sie mich den Berg hochgeprügelt haben – aber es war mein schönstes Erlebnis". Bei dem Beispiel wird sich jeder empören, aber es schneidet ein interessantes Thema an, wie nämlich in EP-Settings das Verhältnis von Freiwilligkeit und Zwang gestaltet wird.

Das gemeinsame Erleben bietet viele Anlässe zum Reden – das ist das Entscheidende! Da braucht man keine Gruppengespräche über Befindlichkeiten.

"Ich habe da eher einen praktischen Zugriff und keine hohen theoretischen Ansprüche. Wir sind bereit, unseren Alltag einige Tage mit den Kindern zu teilen."
 
 
 

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2.1.5. Gemeinwesenorientierung
(Herr Herrmann, Bergerschule Stuttgart)

     2.1.1 Die Schule verlassen (Dieter Brodmann, Wilhelmsschule Bad Urach)
     2.1.2 Experten (Karin Zimmermann, GHS Altingen)
     2.1.3 Lebens- & Berufsvorbereitung (Roland Maier, Röhräckerschule Esslingen)
     2.1.4 Kooperation mit Regelschulen (Hr. Schwarz, Paulinenpflege Kirchheim)
     2.1.5 Gemeinwesenorientierung (Herr Herrmann, Bergerschule Stuttgart)
     2.1.6 Abenteuer oder Abenteuerspiel? (Gilsdorf, Volkert: Abenteuer Schule)
     2.1.7 Die Kurzschulen (Elisabeth Wolf, Leo Klimmer, albErgo Trochtelfingen)
 

Abbildung 7

Will Schule Anschluss an das Gemeinwesen in Form von Verbänden, Vereinen usw. herstellen, so gelingt dies in dem Maße, wie Kooperationspartner gefunden werden, mit denen SchülerInnen im durch Schule hergestellten Rahmen persönliche Kontakte aufbauen können. Des Weiteren sollte die Schule auch dauerhaft in Kontakt mit diesen Partnern bleiben, um einen Austausch herzustellen, der auf einer informellen Ebene die Beratung bei aufkommenden Schwierigkeiten ermöglicht.

Dass die Hürden für SonderschülerInnen dabei enorm sein können, ist ja bereits im Gespräch mit Roland Maier von der Rohräckerschule kurz angeklungen. Im folgenden wird mit der Bergerschule eine Schule vorgestellt, die sich diese Aufgabe zum Schwerpunkt gesetzt hat.

Ob ein solcher Anschluss auch durch EP-Aktivitäten hergestellt werden kann, hängt entscheidend von der Wahl der Kooperationspartner ab. Besitzen LehrerInnen persönliche Kontakte zu solchen Partnern, dürften die Chancen einer erfolgreichen Zusammenarbeit erheblich steigen.

"Anschlussfähigkeit bestimmt die Qualität einer solchen Maßnahme!"

Gespräch mit Herrn Herrmann, Schulleiter der Bergerschule Stuttgart (Förderschule) und ehemaliger Schulleiter der Schule für Erziehungshilfe der Paulinenpflege in Kirchheim / Teck. Ich bin zu Herrn Herrmann über die Paulinenpflege gekommen und so ergab sich eine doppelte Fragestellung: Wie waren die Erfahrungen damals in der Paulinenpflege und wie schlägt sich dies im neuen Tätigkeitsfeld nieder?

Er ist froh, dass seine Arbeit in Kirchheim weitergeführt wird, denn er hat damals viel "Herzblut" investiert. Auch freut es ihn für den neuen Schulleiter, dass die Schule nicht mehr dem "Gesamtleiter" unterstellt ist, eine der Gründe, die ihn damals aus Kirchheim weggetrieben haben. Die Erfahrungen seinerzeit mit der Jugendhilfe haben ihn scharfe Worte finden lassen.

Wichtiger als eine isolierte EP, meint Herr Herrmann, ist eine generelle Öffnung der Schule nach außen, eine gemeinwesenorientierte Schularbeit. Hier hat dann auch EP ihren logischen Ort. EP ist durch exotische Akteure in Verruf gekommen, irre Summen wurden da ausgegeben für extrem aufwendige Unternehmungen.

In einer Situation, die durch Familien- und Erfahrungsverlust gekennzeichnet ist, also einer "sozial deprivierten Primärsozialisation", ist es Aufgabe von Schule solche Defizite aufzuarbeiten und Erlebnisfelder zu schaffen – die Realität in der Realität kennenlernen. Dass die Begegnung mit dieser Realität vorbereitet und inszeniert ist, ändert daran nichts.

Wenn es denn aber generell die Aufgabe von Pädagogik ist, zu Erlebnissen zu verhelfen, ist der Begriff EP eigentlich überflüssig; treffender wäre da eher eine Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Pädagogik, wobei sich bei letzterer der Lehrer als Vollzugsbeamter des Bildungsplanes sieht.

Die Bergerschule nimmt eine größere Zahl von "E-Kindern" auf, da in Stuttgart die E-Schule mit der 6. Klasse beendet ist. Die Integration ist erfolgreich, denn "Normalität lässt sich nur da lernen, wo Normalität herrscht. Und die herrscht an einer E-Schule bestimmt nicht".

An der Bergerschule gibt es zahlreiche Kooperationspartner. Die hieraus resultierenden Angebote sind allesamt verbindliche Unterrichtsbestandteile. In der Mädchenwerkstatt z.B., die ihren Schwerpunkt auf Persönlichkeits- und Berufsfindung legt, wird "gewerkt", weshalb für diese Mädchen kein schulischer Werkunterricht zusätzlich angeboten wird – Outsourcing.

Da außerschulische Kooperationspartner keine Schulnoten geben können, wird eine Beurteilung verfasst, welche dann durch die Schule in Noten übersetzt wird.

Trotz Unterschieden im Kollegium sind alle LehrerInnen von der Wichtigkeit außerunterrichtlicher Angebote überzeugt. Klassenfahrten oder andere einwöchige außerschulische Aktivitäten finden in der Regel am Schuljahresbeginn statt, um mit und über diese Schiene einen guten Einstieg in das Schuljahr zu schaffen.

Dennoch erschwert das "Deputatsdenken", also die Verhaftetheit in den bislang üblichen Mustern der Zeitnutzung, gelegentlich die Organisation und Durchführung solcher Vorhaben. Daher wird derzeit der Versuch gestartet, neue Strukturen zu installieren: Eine Lerngruppe wird von einem Lehrerteam betreut, dass mit einer bestimmten Menge an Deputaten ausgestattet wird, die sie dann selber verteilen (vom Fachunterricht abgesehen); hier könnten sich insbesondere neue Möglichkeiten der Differenzierung ergeben.

Einer der Kooperationspartner ist das Heidehofgymnasium, eine Einrichtung für die Creme de Stuttgart. Dort machen alle SchülerInnen ein verbindliches Sozialpraktikum. Feste Institutionen sind mittlerweile zwei Lernwerkstätten, die Englisch-AG und die Begleitung bei Schullandheimaufenthalten, wo eine mindestens 17-jährige SchülerIn jeweils 2 – 3 FörderschülerInnen zugeordnet wird.

Von der Zusammenarbeit profitieren nicht nur die SchülerInnen der Bergerschule, auch im Gymnasium ist diese Arbeit sehr wichtig geworden, was sich in einem großen Interesse für die Lebenslagen der "Anderen" und einem hohen Verantwortungsbewusstsein ausdrückt.

Das "Erlebnis Fußball" hat Tradition; so wird das Heidehofgymnasium regelmäßig von den Altersgleichen der Bergerschule besiegt, die zur Zeit von einem Referendar mit Trainerlizenz betreut werden und durch eine enorme Regelakzeptanz überraschen.

Die Kooperation mit der Bergwacht und einer anderen Förderschule, die eine Kletterwand besitzt, lässt es zu, dass Klettern als Ersatz für klassischen Sportunterricht angeboten werden kann.

Mit dem Spielhaus und dem Jugendhaus gibt es zwei Kooperationspartner, wo nicht nur den Kindern und Jugendlichen viel geboten wird, sondern auch LehrerInnen viel lernen können: Es gehört zur Professionalität zu studieren, wie andere mit Kindern umgehen - Sozialpädagogen beispielsweise haben eine ganz andere "Zugriffsart", trauen den Kindern oft viel mehr zu.

Alle diese Partner sind zu Fuß erreichbar und fast alles gibt es zum Nulltarif.

Bei der Auswahl von Angeboten gilt es immer wieder, auf die Anschlussfähigkeit zu achten: Beim Kochen werden stets kostengünstige, auch daheim reproduzierbare Gerichte gewählt, bei "Freizeit"-Aktivitäten werden ebenfalls finanzielle Aspekte berücksichtigt: Langlauf statt Abfahrtsski.

Bisher gab es keinerlei Probleme mit dem Schulamt. Die Bergerschule genießt große Freiheiten durch die Teilnahme am Schulversuch Reformierte Oberstufe. Aber auch sonst seien innovative Projekte im Schulamt gerne gesehen und es werden große Spielräume denen gewährt, die sie verantwortlich nutzen. Darüber hinaus entwickelt sich Sonderpädagogik zu einem Markt, in dem "Förderung" angeboten wird; da wäre es eigentlich konsequent, Deputate leistungsbezogen zuzuweisen.

EP ist hier kein exklusives Konzept, sondern wird in den Rahmen einer Gemeinwesenorientierung gestellt. Gleichwohl bleibt sie in ihrer klassischen, auf Natursportarten und Grenzerfahrungen zugeschnittenen Form, unverzichtbar, da dort in besonderer Weise SchülerInnen und LehrerInnen Verständnis untereinander und füreinander aufbringen können, neue oder ungewusste Verhaltensweisen und Kompetenzen entdecken können.

"Jugendhilfe nach BAT"

Herr Herrmann hat zahlreiche schlechte Erfahrungen im Konfliktfeld Jugendhilfe - Schule gemacht. Zu seiner Zeit als Schulleiter in der Paulinenpflege war die "Schule am Heim" noch einem "Gesamtleiter" unterstellt, der seine geringere Dotierung mit einem erhöhten Kontrollbedürfnis auszugleichen versuchte. Doch dies soll nicht das letzte Wort in Sachen Zusammenarbeit Jugendhilfe und Schule sein. Es muss ein Kommunikationsprozess zustande kommen. Denkbar wäre z.B. eine paritätische Besetzung bei (erlebnispädagogischen) Fahrten.

Wo Jugendhilfe als Dienst nach Vorschrift praktiziert wird, wo jede Minute abgerechnet wird, da findet Pädagogik höchstens am Rande statt. In vielen Heimen passiert, trotz - im Vergleich zu Schulklassen - hoher Betreuungsschlüssel, zu wenig. Oft ist jedes zweite Wochenende Heimfahrtswochenende und auch die Teambesprechung am Nachmittag erfordert die dringende Teilnahme aller pädagogischen Kräfte. Dort wird dann endlos über die Ursachen diesen oder jenen Verhaltens spekuliert, vielleicht noch unter Einbezug von Psychologen, was jedoch selten zu konkreten Handlungsstrategien führt. Dieses Spekulieren hat seinen Grund nicht zuletzt in der verhängnisvollen psychoanalytischen Ausrichtung der Verhaltensgestörtenpädagogik in Baden-Württemberg. "In erster Linie bin ich aber dazu da, sichtbares Verhalten zu verändern und zu verbessern; über Kausalitäten kann ich mir Gedanken machen, wenn ich dann noch Zeit übrig habe."

Und in der Jugendhilfe wird viel Geld für wenig Effekt ausgegeben: Wenn ein Tagesgruppenplatz beispielsweise DM 3 500.- monatlich kostet, und dort wird zusammen Mittag gegessen, Hausaufgaben gemacht und ein wenig gespielt, dann ist dies alles in allem eine extrem teure Hausaufgabenbetreuung: "Mit dem Geld würde ich viel mehr für viel mehr Kinder machen". Soll Jugendhilfe nicht Hausaufgabenbetreuung sondern echter Familienersatz sein, so müssten dort andere Arbeitszeitmodelle Platz greifen: z.B. 2 bis 3 Jahre, kein Urlaub, immer da, immer verfügbar, und dann allen Urlaubsanspruch auf einmal nehmen.

Jugendhilfe glänzt auch durch einen teuren "Wasserkopf": "Der Verwaltungsaspekt in der Jugendhilfe ist ein zentraler". Gerade in kirchlichen Einrichtungen tagt fast ständig irgendeine Ideologie- oder Strategiekommission, die der Sache noch dadurch einen "faschistoiden Anstrich" verleiht, dass die Ziele und Wege der jeweiligen Einrichtung das "einzig Wahre" sind.
 
 
 
 

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2.1.6. Abenteuer oder Abenteuerspiel?
(Gilsdorf, Volkert: Abenteuer Schule)

     2.1.1 Die Schule verlassen (Dieter Brodmann, Wilhelmsschule Bad Urach)
     2.1.2 Experten (Karin Zimmermann, GHS Altingen)
     2.1.3 Lebens- & Berufsvorbereitung (Roland Maier, Röhräckerschule Esslingen)
     2.1.4 Kooperation mit Regelschulen (Hr. Schwarz, Paulinenpflege Kirchheim)
     2.1.5 Gemeinwesenorientierung (Herr Herrmann, Bergerschule Stuttgart)
     2.1.6 Abenteuer oder Abenteuerspiel? (Gilsdorf, Volkert: Abenteuer Schule)
     2.1.7 Die Kurzschulen (Elisabeth Wolf, Leo Klimmer, albErgo Trochtelfingen)
 

Abbildung 8

Ich unterstelle, dass in dem Maße, wie Jugendliche "schwierig" sind, EP die Ernsthaftigkeit der Herausforderungen betonen muss. Schwierig soll hier heißen: Jugendliche haben Schwierigkeiten, sich einem für sie kaum nachvollziehbaren gesellschaftlichen Regelwerk anzupassen, welches die für sie legitimen Formen von Lebenspraktiken sanktioniert. Der wiederholte Kontakt mit den Durchsetzungsinstanzen dieses Regelwerkes verschärft dieses oft noch. Schule bietet hierzu nur in seltenen Fällen ein Gegengewicht, weshalb die Schulkarrieren dieser "schwierigen" meist ebenfalls durch Brüche gekennzeichnet sind.

Werden mit solchen Jugendlichen Abenteuerspiele veranstaltet, so besteht die Gefahr, dass man sich nur um das Einhalten irgendwelcher Regeln streitet und dass die eigentlich intendierten Ziele in den Hintergrund geraten.

Anders ist dies in "Ernstsituationen", wo sich die Regeln aus der Situation ergeben und die Konsequenzen unmittelbar erlebbar bzw. vorstellbar sind. Solche Situationen können viel besser akzeptiert werden und bieten dann die Chance, sich selber als wirksam handelnd wahrzunehmen.

"Aufpassen, daß nichts passiert, ist nicht cool – cool bleiben, obwohl etwas passiert ist, das ist das Wesentliche!"

In Rheinland-Pfalz gibt es eine Vereinigung namens NEPAL (Das Netzwerk erlebnispädagogischer Projekte und abenteuerlichen Lernens). Dies ist ein Zusammenschluss von ep Aktiven in den Bereichen Schule und Jugendarbeit. Neben dem Austausch von Erfahrung und der praktischen Erprobung neuer Ideen ist ein wesentlicher Schwerpunkt die Ausbildung von MultiplikatorInnen. Hierfür wird eine zweijährige Fortbildungsreihe "Abenteuer, Lernen, Kreativität" veranstaltet.

Aus diesem Zusammenhang heraus ist das Buch "Abenteuer Schule" entstanden, herausgegeben von Rüdiger Gilsdorf und Kathi Volkert (1999). Es enthält u.a. eine Reihe unterschiedlicher Berichte von Umsetzungsversuchen in der Schule. Obwohl ganz unterschiedliche Projekte beschrieben werden, ist doch bei fast allen beschriebenen Inszenierungen ein starke Gewichtung von Abenteuerspielen festzustellen. Da ich dies bei den Einrichtungen, über die ich berichtet habe, so nicht gefunden habe, möchte ich diesen Ansatz noch vorstellen.

Die Spiele sollen, neben den direkt erhofften Lernerfolgen v.a. im Bereich Kooperation und Problemlösestrategien, sanft zu den typischen Outdoor-Bereichen hinführen, diese im Sinne vertrauensbildender Maßnahmen vorbereiten; oftmals geschieht das eingebunden in eine Erzählung, ein Märchen, eine Geschichte.

Obwohl ein solcher Aufbau nicht untypisch für eine Reihe von EP-Aktionen ist, und oftmals Spiele einen gelungenen Einstieg darstellen, lässt sich bisweilen kaum vermitteln, dass diese in einer gezielten Verbindung zu größeren Herausforderungen stehen. Zudem wird vorausgesetzt, dass sich SchülerInnen an ein recht abstraktes Regelwerk halten, welches nur sehr bedingt aus dem Ernstcharakter der Situation selbst entspringt. Dass dies besonders den SchülerInnen schwerfällt, die auch sonst mit schulischen und gesellschaftlichen Regeln in Konflikt geraten, ist zu vermuten. In einer E-Schule wird man üblicherweise eine Anhäufung solcher SchülerInnen finden.

Der Bericht mit dem Titel "Vom Abenteuerspiel zum Abenteuer" über die Natur- und Erlebnis-AG der Nardinischule in Pirmasens, einer privaten Schule für Erziehungshilfe zeigt dies deutlich: Mit vertrauensbildenden Maßnahmen und Kooperationsspielen sollte die Grundlage für "große Herausforderungen" wie Klettern, Kanufahren etc. geschaffen werden. Beim Spiel "Blindenspaziergang" z.B. galt es bei Führenden und Geführten als "o.k.", den Partner gegen eine Wand laufen zu lassen. "Es ist ja nichts passiert", kleine Beulen am Kopf störten nicht. (ebd. S.281) Bei der "Überquerung des Dschungelflusses" steigerte sich dies noch: Der "Dschungelfluss" floss durch den Keller des Schulhauses in Form eines Lehrschwimmbeckens. Mit einem kleinen "Boot", das aus Seilen und Schwimmbrettern gefertigt wurde, sollte er überquert werden. Es gab ein paar Vorgaben: "Maximal zwei Mann ins Boot (es war damit sowieso schon überladen), nicht ins Wasser greifen (Piranhas), nicht näher als zwei Meter ans Ufer (Wilde = Lehrer)". Nachdem die Piranhas und die Wilden viel Arbeit bekamen, sich das Boot nur im Kreis drehen wollte und zu guter Letzt mit allen trockenen Ersatzklamotten umkippte, war für die Lehrer klar: "Aus unserer Sicht war die ganze Aktion eine einzige Katastrophe". Nicht so für die Schüler: "Die Jungs fanden es toll und hätten es am liebsten noch mal durchgespielt, um das Fiasko ein zweites Mal auszukosten". (ebd. S. 283)

Bei einem Ausflug wurde aus dem Abenteuerspiel dann doch noch ein echtes Abenteuer, nachdem ein Schüler Aufzeichnungen einer Kompanie aus den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges fand. Es wurde dann daraus ein fächerübergreifendes Projekt mit vielen Recherchen und einer intensiven Auseinandersetzung zum Thema Krieg.

Die Lehrer ziehen für sich einige Schlüsse aus dieser AG:

Auch zu den Geschichten, in die Spiele oftmals eingebettet werden, scheint mir ein Hinweis angeraten. Offensichtlich kommen Geschichten besonders bei jüngeren Schülern gut an, bei entsprechender Gestaltung sprechen u.U. auch ältere darauf an. Zwei Dinge werden dabei m.E. jedoch nicht hinreichend beachtet: Erstens muss bei der Auswahl der Geschichte reflektiert werden, was die "Message" ist, welches Verhalten eine solche Geschichte produziert und zweitens wird leicht vergessen, dass solche Geschichten u.U. ein sehr hohes Abstraktionsvermögen verlangen, zumindestens dann, wenn sich die Aufgabenstellungen nicht direkt aus der Geschichte ergeben und dies wird wohl immer mehr oder weniger der Fall sein.

Dies illustriert der Bericht über die Schatzsuche der "Unkeler Piratenhorde", alias Klasse 9b der Hauptschule Unkel: Etliche kooperative Problemlöseaufgaben waren in eine Piratengeschichte eingebunden, nur verhielten sich manche der Piraten nicht immer kooperativ und erfanden ihre eigenen "Spielregeln", was bei Piraten nicht unbedingt verwundern muss. So wurden bei der Flussüberquerung nicht erst mühsam alle sicher hinüber gebracht, zum Bergen der Schatzkiste reichten (zumindest nach ihrer eigenen Ansicht) zwei mutige Piraten völlig aus. Der Schatz bestand aus Goldmünzen, mit denen die Piraten im "Krämerladen" für das Abschlussgelage einkaufen sollten; aber warum sollten sie den Schatz dafür verbrauchen, wo man doch auch die Krämer fesseln und den Laden ausrauben konnte. Die nachkommende zweite Gruppe war mächtig sauer, dass der Laden leer war... (vgl. ebd. S.166-185).
 
 
 

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2.1.7. Die Kurzschulen
(Elisabeth Wolf, Leo Klimmer, albErgo Trochtelfingen)

     2.1.1 Die Schule verlassen (Dieter Brodmann, Wilhelmsschule Bad Urach)
     2.1.2 Experten (Karin Zimmermann, GHS Altingen)
     2.1.3 Lebens- & Berufsvorbereitung (Roland Maier, Röhräckerschule Esslingen)
     2.1.4 Kooperation mit Regelschulen (Hr. Schwarz, Paulinenpflege Kirchheim)
     2.1.5 Gemeinwesenorientierung (Herr Herrmann, Bergerschule Stuttgart)
     2.1.6 Abenteuer oder Abenteuerspiel? (Gilsdorf, Volkert: Abenteuer Schule)
     2.1.7 Die Kurzschulen (Elisabeth Wolf, Leo Klimmer, albErgo Trochtelfingen)
 

Abbildung 9

Diese Institutionen bieten EP als Dienstleistung, u.a. in Form von ep Kurswochen im Rahmen von Schullandheimaufenthalten für Schulen, an. Sie sind orientiert am Konzept der Kurzschulen, wie es einst Kurt Hahn entwickelte und wie es sich zur internationalen Outward-Bound-Bewegung weiterentwickelt hat. Bei ständig wechselnden Jugendlichen wird die Kontinuität der Arbeit über ausgefeilte und ständig weiterentwickelte Konzepte und Programmeinheiten gewährleistet, welche nicht nur pädagogische Fachleute überzeugen, sondern auch dem nachfragenden Markt gerecht werden müssen. Letzteres scheint weniger schwierig zu sein. Die erfolgreichen Anbieter von EP-Kursen stehen zumeist einer kaum zu bewältigenden Nachfrage gegenüber.

Ich stelle hier exemplarisch den Verein albErgo auf der schwäbischen Alb vor, wohl wissend, dass es große Unterschiede zwischen den verschiedenen Anbietern gibt. Es geht mir darum, das Besondere einer solchen Einrichtung und des Berufsbildes des Erlebnispädagogen herauszustellen.

Mit der Gründung des Vereins wurde auf Defizite einer erstarrten, lebensfernen und bewegungsunfreudigen Schule reagiert. Die Besonderheit dieses speziellen Lehr- und Lernangebotes beruht nicht zuletzt auf der besonderen Rolle des Erlebnispädadogen, der zum einen als Moderator gruppendynamischer Prozesse und zum anderen als Fachkraft in Sachen Natursportarten auftritt.

Solche Schullandheimaufenthalte sind keine Erholungswoche, sondern "eine knallharte Aufgabe, etwas zu lernen", sie wirken als Impulse auf SchülerInnen und LehrerInnen und können dann, wieder zurück in der Schule, aufgegriffen und weiterbearbeitet werden.

"Davon lebt Erlebnispädagogik, dass sie etwas Besonderes bleibt und dass sie nicht zum Alltag wird."

Der Verein albErgo e.V. in Trochtelfingen bietet ep Kurse nach dem Kurzschulmodell als Dienstleistung u.a. für Schulklassen an. Mich interessierten die Gründe für ein solches professionelles Angebot und das Verhältnis zur Schule.

Es ist früher Abend, ich sitze mit Leo Klimmer (Sport- und Biologielehrer, Fachübungsleiter Skihochtouren, Bergwandern, Skilanglauf) und Elisabeth Wolf (Diplompädagogin, Sonderschullehrerin (K, L, E), Fachübungsleiterin Behindertensport, Familientherapeutin) im Garten von albErgo. Bevor wir uns dem eigentlichen Thema zuwenden, kreist unser Gespräch noch um die Erlebnisse des heutigen Tages, an dem wir gemeinsam eine Höhle befahren haben. Wir werden einige Male unterbrochen, da die Schulklasse, die gerade von der 2-Tages-Tour wiedergekommen ist, noch Sprudel, gelbe Säcke und ähnliche unentbehrliche Dinge braucht.

Was also macht die Besonderheit einer professionellen EP aus?

Die Kraft des überzeugenden Beispiels ist wichtig, die Glaubwürdigkeit, weil die Dinge, die den Jugendlichen nahegebracht werden, Bestandteil des eigenen Lebens sind, "weil man weitergibt, dass dich die eigene Erfahrung so geprägt hat, dass du selber deinen eigenen Lebensweg dadurch beeinflusst hast".

Als Erlebnispädagoge hat man eine ganz andere Rolle als der Lehrer, der eben auch für Leistungskontrolle und Noten steht. Gerade dies kann aber Probleme bescheren: Die Lehrerin, die gerade mit ihrer Gymnasialklasse bei albErgo ist, findet es "grausam", nicht die Verursacherin der schönen Erlebnisse zu sein und dass ihr der "undankbare" Bereich bleibt: Ordnung im Haus, Bettruhe usw.. Auch dass sie nicht einfach teilhaben kann, dass sie sich raushalten muss auf der Tour, weil dort die SchülerInnen alleine in Kleingruppen unterwegs sind, betrübt sie.

"Wer professionell ist, steht darüber", denn LehrerInnen haben viele Gestaltungsmöglichkeiten während so einer Woche, sei dies eine kooperative Küchenregelung, ein attraktives Abendprogramm oder das Nutzen der Chancen, (einzelnen) SchülerInnen näher zu kommen.

Viele LehrerInnen schätzen deshalb so sehr die Aufenthalte bei albErgo, weil sie einerseits wie durch ein Vergrößerungsglas die Klassensituation erleben und andererseits ganz neue und unbekannte Seiten von SchülerInnen entdecken; eine typische Äußerung in dieser Richtung wäre: "Danke, es war schön zu sehen, wie ihr mit denen schafft, wieviel ihr zutraut, wieviel Vertrauen ihr in deren Selbstständigkeit habt".

Viele LehrerInnen holen sich so Impulse für ihre weitere Arbeit in der Schule und freuen sich, ein Angebot wahrnehmen zu können, das sie selber nicht bieten können. SportlehrerInnen hingegen empfinden EP oft als Konkurrenz und veranstalten daher Schullandheime mit einer aktiven Freizeitgestaltung selber.

Aus der langjährigen Erfahrung mit den Reaktionen der Jugendlichen hat sich ein Spezialistentum entwickelt, welches ein Lehrer in einer solchen Tiefe kaum leisten kann. Hinzu kommen die Kenntnisse vor Ort, der Infrastruktur; es entstehen über die Jahre ausgefeilte Einzeleinheiten, die dann für die jeweilige Arbeit mit einer Gruppe eine solide Grundlage bieten und entsprechend angepasst werden können.

Was Erlebnispädagogen auszeichnet ist, dass sie einerseits über Fachkenntnisse im Outdoorbereich verfügen, sowie andererseits Moderatoren gruppendynamischer Prozesse sind. Diese Fähigkeiten müssen nicht zwangsläufig in Personalunion vorhanden sein. Im angelsächsischen Raum wird oft die Arbeit aufgeteilt, wobei der eine Teil von einem Outdoor-Guide übernommen wird, also die technische Seite, und die pädagogische Seite von einem Gruppen-Instructor, der für die Steuerung und Reflexion der gruppendynamischen Prozesse zuständig ist.

Bei einer solchen Aufteilung läge es nahe, den pädagogischen Teil von der LehrerIn durchführen zu lassen und sich einen Outdoor-Guide z.B. vom Alpenverein dazuzuholen, ein Modell wie es auch in manchen Schulen praktiziert wird. Die Pädagogen von albErgo haben allerdings Zweifel: Die Outdoor-Guides mit ihrem Schwerpunkt im Bereich Technik und Sicherheit haben oft wenig Erfahrung im Umgang mit Schwierigkeiten in einer Gruppe, besonders dann, wenn es sich um sogenannte schwierige oder behinderte Jugendliche handelt. LehrerInnen haben zumeist ihre Fächer im Blick: "So wie der Schüler Schule heute kennt, ist der Lehrer eben nicht Moderator", er bleibt tendenziell in seiner klassischen Rolle. Er kann und soll sich zwar auf den Weg machen, andere Beziehungen zu den SchülerInnen auzufbauen. EP lebt aber gerade von der Besonderheit, auch von der Besonderheit der kurzfristig entstehenden, intensiven Beziehung, was anschaulich durch die prall gefüllten Ordner mit "Fanpost" bei albErgo dokumentiert wird, und steht damit in einem prinzipiellen Widerspruch zu Stetigkeitsansprüchen der Schule.

Aber ob solcher Äußerungen darf nicht vergessen werden, dass EP "keine Belohnung ist, sondern eine knallharte Aufgabe, etwas zu lernen". Daher gibt es auch eine Altersbeschränkung bei albErgo: Mindestens 13 Jahre sollten SchülerInnen sein, damit entsprechend reflektiert werden kann, denn das gehört dazu. Bei jüngeren sind solche Reflexionen nicht altersentsprechend.

Es gibt auch Ansätze, EP in die Schulen hineinzuholen. Projekt Adventure z.B., ein Konzept aus den Staaten, ist ein durchstrukturiertes Programm, das sich in 90-Minuten Einheiten realisieren lässt (vgl. Feierabend 1997). Auch wenn dies sicherlich zu einer positiven Veränderung von Sportunterricht beitragen kann, so unterscheidet sich dies aber enorm vom Ansatz der Kurzschulen. Es hat den Beigeschmack von "Fastfood"; da wird etwas Aktuelles schnell in Schule integriert, es wird in 90 Minuten "abgehakt", es wird etwas "geleistet".

Nicht dass in einer EP-Woche nichts geleistet würde, aber da geschieht noch einiges mehr und das braucht Zeit. Sich hinter einer Maske verstecken, das hält nicht einmal der größte "Coolman" eine Woche lang aus. Die Gruppe fördert, "dass du dich zeigst", du wirst angreifbar, du kannst "authentisch" sein. Vielleicht wird der "Klassenliebling als Arsch entlarvt", vielleicht gerät die Klasse in Erstaunen: "Mensch, das ist ja super, was die kann. Das hätten wir nie gedacht."

Das Konzept von albErgo ist mitverursacht durch das, "was in der Schule verbockt wird", die Zerstörung der Freude an der Bewegung und der Lust an der Verbindung von Bewegung, Leben und Lebendigkeit. Es wird also auf schulische Defizite geantwortet. Seit Jahren gibt es das "große Geschrei" über den "Werteverfall", bei albErgo wird stattdessen gelebt, es werden Ideen in Leben umgesetzt, ein "Riesenprojekt, in das alles einfließt". So können auch Werte vermittelt werden: Verantwortlichkeit übernehmen gegenüber sich selbst, gegenüber den Mitmenschen und gegenüber der Umwelt. Solche Werte lassen sich nicht abstrakt vermitteln, sondern nur aus Zusammenhängen heraus, in denen die Notwendigkeit unmittelbar erfahrbar wird.

Ein solches Konzept lässt sich innerhalb eines starren Schulsystems mit viel zu engen Lernzielen nicht entwickeln und verwirklichen. SchülerInnen müssen die Möglichkeit erhalten, ihr individuelles "Explorationsverhalten" zu entwickeln, LehrerInnen wollen jedoch immer steuernd eingreifen, können es kaum ertragen, SchülerInnen eigene Wege ausprobieren zu lassen.

Auch LehrerInnen können daher bei albErgo-Aufenthalten profitieren, aber der Auftrag ist die Arbeit mit den SchülerInnen und nicht eine Supervision für LehrerInnen, obwohl viele ein Bedürfnis danach haben, weil sie immer noch viel zu selten in Teams reflektiert zusammen schaffen.

Man kann vieles in der Schule machen, wobei immer zu bedenken ist, dass wenn die Zeit kurz ist, die Selbsttätigkeit leidet. Viele "große Aktionen" lassen sich vorbereiten, z.B. durch Orientierungseinheiten oder auch einen Kletterkurs. Erlebnisorientierter Unterricht bedeutet: "einfach etwas mehr Adrenalin als üblich".

"EP lebt von den starken Erlebnissen, von Impulserlebnissen", die sich weit oben auf der "Adrenalinskala" befinden. Zur Erlebnispädagogik wird Erleben aber erst durch das Konzept, durch die reflektierte und weiter entwickelte Praxis, weshalb EP mehr als eine Methode ist. "Lernen läuft nicht nur über das Erleben, sondern auch über das Verarbeiten – Unbewusstes bewusst machen".

Was rät albErgo den LehrerInnen der Hannah-Arendt-Schule:


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