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2.2. Jugendhilfe
 2.1. Schule       2.2. Jugendhilfe        2.3. Nachlese
    2.2.1 Handlungsorientierung (Manfred Aberle, Waldhaus Hildrizhausen)
    2.2.2 Eltern (Sigmund Nieschak, Marc, Haus Aichhorn Dornhahn)
    2.2.3 Von der Keimzelle zum Konzept (Th. Rittmeyer, Martinshaus Kleintobel)
    2.2.4 Schule - Jugendhilfe (J. Mall, Christopherus Jugendwerk Oberrimsingen)


Im Bereich der Hilfen zur Erziehung unterscheiden Klawe und Bräuer (1998, S.11ff) zwischen vier verschiedenen Möglichkeiten des Einsatzes von Erlebnispädagogik:

1. als Gestaltungsprinzip des Heimalltages
2. als Alternative zur geschlossenen Unterbringung
3. als Krisenintervention
4. als "finales Rettungskonzept"

Die letzten drei Punkte scheinen mir für die weitere Betrachtung von eher untergeordneter Bedeutung. Meist handelt es sich um hochgradig individualisierte Maßnahmen mit speziell ausgewählten Jugendlichen, die in irgendeiner Weise als "nicht mehr tragbar" in einer Institution erscheinen. Nicht selten, so stellen Klawe und Bräuer fest, wird Erlebnispädagogik an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und –psychiatrie eingesetzt (ebd. S.109ff). Es handelt sich also meist um Maßnahmen, die ergriffen werden, wenn "das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist".

Wird eine feste Verankerung von Erlebnispädagogik im Curriculum einer Schule angestrebt, selbst wenn es sich dabei um eine Schule für Erziehungshilfe handelt, so wird sie dabei als explizites Bildungselement begriffen, als präventive Maßnahme, wie es im Sozial-Jargon heißt. Es geht um Kompetenzerwerb statt Therapie. Eine besondere Defizit-(Förder-)Diagnose ist keinesfalls die Voraussetzung dafür, dass SchülerInnen zur Teilnahme an erlebnispädagogischen Veranstaltungen aufgefordert werden.

Insofern ist die Gestaltung des Heimalltages mit Hilfe von Erlebnispädagogik einer genaueren Betrachtung wert, weil sich dort zeigt, inwieweit hier gewonnene Erfahrungen Relevanz für eine schulische Umsetzung haben könnten. Es handelt sich, vergleichbar mit der Schulsituation, um Unternehmungen, auf die sich eine Gruppe junger Menschen, die auch sonst zusammen eine soziale Einheit darstellen, einlässt und eben "...nicht um ein hervorgehobenes oder gar stigmatisierendes Projekt..." (ebd. S.16), wie das die oben unter Punkt 2-4 von Klawe und Bräuer genannten Projekte wohl in der Regel sind.

Erlebnispädagogik scheint zumindest zeitweise eine Alternative zum Heimalltag darzustellen: "In dieser Welt festgelegter, strukturell erzwungener Strukturen wird Erlebnispädagogik zu einem alternativen Programm in der Suche nach der "unfertigen Situation", das mehr will, als eine Inszenierung von spektakulären Abenteuern, mit dem Prickeln oder dem Schauder des Besonderen oder Sensationellen... Erlebnispädagogik ist gerade für die Erziehungshilfe – und hier besonders für die Heimerziehung als ein institutionalisiertes Arrangement – eine dringend nötige Alternative zum institutionell verkrusteten Alltag, mit seinen organisierten Festlegungen, seinen verfremdenden Organisationsstrukturen" (Verband Katholischer Einrichtungen, z.n. ebd., S. 16).

Ich denke, dass das oben Gesagte durchaus auch für den Schulalltag Berechtigung hat. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass Sozialpädagogik aus einer anderen Perspektive als Schulpädagogik pädagogische Arrangements entwickelt und durchführt. (vgl. hierzu die Aussagen von Stöppler )
 
 
 
 

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2.2.1. Handlungsorientierung
(Manfred Aberle, Waldhaus Hildrizhausen)

2.2.1 Handlungsorientierung (Manfred Aberle, Waldhaus Hildrizhausen)
2.2.2 Eltern (Sigmund Nieschak, Marc, Haus Aichhorn Dornhahn)
2.2.3 Von der Keimzelle zum Konzept (Th. Rittmeyer, Martinshaus Kleintobel)
2.2.4 Schule - Jugendhilfe (J. Mall, Christopherus Jugendwerk Oberrimsingen)

Abbildung 10

Einige Settings betonen stärker den Aspekt der Funktionalität des Erlernten, einerseits in Richtung Freizeitgestaltung und damit verbunden einer Anbindung an das Gemeinwesen, andererseits in Richtung handwerklich-technischer Fähigkeiten. In den Gesprächen mit Herrn Brodmann  und Herrn Herrmann  ist dieser Aspekt bereits angeklungen, im Waldhaus wird er zum explizit erlebnispädagogisch verstandenen Konzept.

Hier tritt das Ereignishafte, das Besondere gegenüber dem Kontinuierlichen, Beharrlichen insofern in den Hintergrund, als Letzteres die Grundlage für Ersteres bildet. Erfolge und das Erleben von Selbstwirksamkeit basieren auf erlernter Fachlichkeit. Dass klassische EP-Reflexionseinheiten bei solchermaßen orientierten Veranstaltungen fehlen, ist sicher kein Zufall.

"Das mit der Persönlichkeitsveränderung ist doch recht nebulös."

Gespräch mit Manfred Aberle, Sozialdiakon im Waldhaus, Hildrizhausen. Das Waldhaus ist eine sozialpädagogische Jugendeinrichtung, in der ca. 60 Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren in verschiedenen Wohnformen, erlebnispädagogischen Reiseprojekten und im Bereich Berufsförderung und Ausbildung betreut werden. Darüber hinaus gibt es verschiedene ambulante Angebote. EP ist seit 10 Jahren integraler Bestandteil der pädagogischen Arbeit im Waldhaus.

Wie schon in der Überschrift angedeutet, verfolgt das Waldhaus einen handlungsorientierten Ansatz. Die Arrangements werden schwerpunktmäßig auf den Erwerb von Kompetenzen im handwerklichen und natursportlichen Bereich hin ausgerichtet. Das Ereignishafte tritt gegenüber dem Stetigen zurück.

EP ist im Waldhaus an verschiedenen Stellen verankert: Im Heimbereich in Form von Freizeitgestaltung am Nachmittag, am Wochenende oder auf Freizeiten sowie im Bereich der Projektwerkstatt, einer hausinternen Berufvorbereitungsmaßnahme. Diese Maßnahme gibt es seit 5 Jahren, erhält keine Gelder der Arbeitsverwaltung und finanziert sich aus Pflegesätzen und Mitteln des Europäischen Sozial Fonds für innovative Projekte der Berufsförderung/-vorbereitung. 6 – 8 Jugendliche von 15 – 18 Jahren werden hier 1 Jahr (mit Verlängerungsoption) auf die "Berufsreife" hingeführt und auf die externe Hauptschulabschlussprüfung vorbereitet. Konzipiert ist die Maßnahme speziell für Schulverweigerer und –abbrecher.

An den Vormittagen findet der theoretische Teil statt, wobei an drei Tagen eine Lehrerin von außerhalb dazukommt, an den Nachmittagen gibt es Freizeit- und Arbeitsangebote. Letztere lassen sich nicht trennen, da in Form von Projekten gearbeitet wird, die handwerkliche Grundfertigkeiten vermitteln sowie einen motivierenden Freizeitaspekt beinhalten.

Idealtypisch hierfür war das Kletterwandprojekt: Die Unterkonstruktion wurde selber gebaut in Absprache mit einer Spezialfirma, die die Bestückung vornahm und mit der eine enge Kooperation von Planung und Ausführung lief. Parallel dazu sind die Jugendlichen zum Klettern gegangen, woraus die heute im Waldhaus existierende Klettergruppe entstanden ist. Zusätzlich zu der stationären Kletterwand wurde noch eine mobile Kletterwand gebaut, die gelegentlich verliehen wird. Die Projektwerkstättler sind am Auf- und Abbau sowie an der Betreuung beteiligt und gewinnen so Einblick in einen echten Arbeitsalltag mit festen Terminen, Zeitdruck und Qualitätsansprüchen,.

Mountainbike ist ein ähnliches Projekt: In der Projektwerkstatt werden alte Fahrräder restauriert und auf dem Flohmarkt verkauft, um dann Mountainbikes zu erwerben, die natürlich auch gepflegt werden wollen. Kleinere und größere MTB-Touren gehören dann ebenfalls zum Projekt. Bei der Fahrräderrestaurierung wird mit der hausinternen Werkstatt kooperiert, in der die Ausbildungsgänge Teilezurichter und Industriemechaniker angeboten werden.

Die Wartung des gesamten Freizeit- / EP-Materials im Waldhaus ist ebenfalls Aufgabe der Projektwerkstatt: Kletterwand, Klettermaterial, Kanus und Kajaks, Skiausrüstung und Mountainbikes.

Es geht in diesen Projekten einerseits darum, konkrete handwerkliche Fertigkeiten zu erwerben. Es soll aber auch Handlungskompetenz im Freizeitbereich erworben werden. Die Veränderung des eigenen Könnens, der Erfolg muss für die Jugendlichen nachvollziehbar sein und beruht auf beharrlichem Tun, auf Kontinuität. Das Training von Techniken steht daher im Vordergrund. Jugendliche sollen sich eine Fachlichkeit erarbeiten, die ihnen ermöglicht, objektiv Gefährliches subjektiv bewältigbar zu gestalten. Um die Fachlichkeit im Bereich Technik und Sicherheit zu gewährleisten, gibt es im Waldhaus mehrere ausgebildete DAV- Fachübungsleiter.

Teamtraining ist ein weiterer Aspekt der EP sowie eine Identifikation der Einzelnen mit der Gruppe und der Einrichtung. Besondere Wichtigkeit kommt auch ihrer kompensatorischen Funktion zu. So hat es sich bestens bewährt, den Tag vor einer großen Prüfung als ganztägige Kletter- oder MTB-Tour zu gestalten, um Druck rauszunehmen und einem Zerfall der Gruppe entgegenzusteuern.

Die Kletterfreizeiten im Waldhaus sind sehr beliebt und es gibt mehr Bewerber als Teilnehmer, so dass eine Auswahl stattfinden muss. Bevorzugt werden Mitglieder der Klettergruppe genommen und ansonsten solche, für die in erster Linie das Klettern die Motivationsgrundlage bietet und die ihren Alltag gut auf die Reihe bekommen. Die Freizeit hat einen gewissen Belohnungscharakter. Die unterschiedlichen Vorerfahrungen der Teilnehmer sind dabei eher förderlich, vorhandenes Wissen kann weitergegeben werden. Auch die Wünsche sind durchaus verschieden, so dass das Angebot flexibel gestaltet werden kann: Während die einen klettern bis zum Umfallen, bauen andere eine Seilrutsche über einen Fluss o.ä., auch das Ausspannen kommt nicht zu kurz. Für die Freizeiten gibt es eine zusätzliche Haftpflichtversicherung, aber die wirkliche Versicherung ist die Fachlichkeit der Pädagogen und ihre Einschätzung des unterschiedlichen Vermögens der Jugendlichen - bei wem kann man sich auf was verlassen. Unter diesen Voraussetzungen ist es dem Waldhausteam möglich, den Jugendlichen ein weitgehendes Ausprobieren zu ermöglichen, das heißt beispielsweise beim Klettern, am "scharfen" Ende des Seils zu klettern, also vorzusteigen und somit die Möglichkeit eines Sturzes zu riskieren.

Und die Reflexion der gemachten Erfahrungen? "Da die teilnehmenden Jugendlichen von ausführlichen Thematisierungen und differenzierten Verbalisierungen nicht viel halten, teilten sie uns kurz und bündig mit, daß es echt "O.k." gewesen sei, und daß sie nächstes Jahr wieder dabei sind." (Waldhaus o.J., S.19)

Bei den Zielsetzungen, die mit EP verbunden werden, wollen die Waldhäusler auf dem Boden bleiben: "Das mit der Persönlichkeitsveränderung ist doch recht nebulös". Durch Kontinuität und erlernte Fachlichkeit Erfolge erzielen – das ist die entscheidende Message. Zentrale Lernaufgabe wäre somit die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Dass dies in einem ep Setting geschieht, ist der Tatsache geschuldet, dass der Alltag weitgehend normiert und erfahrungsarm ist und wenig Möglichkeiten bietet, sich selbst als verändernd und gestaltend zu erleben.

Wenn dann noch eine Anknüpfung an das Gemeinwesen, an Vereine etc. gelingt, ist schon viel erreicht. WaldhausmitarbeiterInnen konnten bei Kletterprojekten, die sie für Schulen angeboten haben, feststellen, dass vornehmlich Jugendliche, die nicht in Vereinen organisiert sind, solche Angebote wahrnehmen.

Das Erlernte ist für die Jugendlichen auch immer eine Möglichkeit, in Zukunft ihre eigene Freizeit zu gestalten. Immer wieder kommen Ehemalige ins Waldhaus, um sich Material für eine Tour mit Freundin oder Kumpels auszuleihen.

Was genau im Waldhaus an EP-Inhalten geboten wird, ist auch von den Erfahrungen und Qualifikationen der MitarbeiterInnen abhängig. Das Waldhaus bietet daher interne Fortbildungen zum Thema Klettern, Kajak, Seil und Höhle an.
 
 
 

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2.2.2. Eltern
(Sigmund Nieschak, Marc, Haus Aichhorn Dornhahn)

2.2.1 Handlungsorientierung (Manfred Aberle, Waldhaus Hildrizhausen)
2.2.2 Eltern (Sigmund Nieschak, Marc, Haus Aichhorn Dornhahn)
2.2.3 Von der Keimzelle zum Konzept (Th. Rittmeyer, Martinshaus Kleintobel)
2.2.4 Schule - Jugendhilfe (J. Mall, Christopherus Jugendwerk Oberrimsingen)

Abbildung 11

Eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit Eltern bedarf, und dies gilt in besonderem Maße in der Erziehungshilfe, einigen Kraftaufwandes seitens des pädagogischen Personals. Karin Zimmermann  hatte bereits darauf hingewiesen, dass hierbei allzu schnelle Erfolge nicht zu erwarten sind.

Mit dem Einsatz von EP in der Elternarbeit experimentiert das Haus Aichhorn im Schwarzwald. Eltern und Jugendliche können sich ganz anders kennenlernen, gegenseitig neu entdecken und sich schätzen lernen. Sie erhalten Anregungen, wie sie gemeinsame Zeiten aktiv und intensiv gestalten können.

"Ich hätte nie gedacht, dass meine Eltern bei solchen Aktionen mitmachen!"

Ich bin im Gespräch mit Heimleiter Nieschak, später kommt der Jugendliche Marc und eine Sozialpädagogin dazu. Haus Aichhorn ist ein Heim, in dem 18 Jungen betreut werden. Das Aufnahmealter liegt in der Regel zwischen 8 und 14 Jahren. Seit vielen Jahren werden ep Aktivitäten im Freizeitbereich durchgeführt; damit soll die Gemeinschaft gestärkt, Selbstwertgefühl gesteigert und Selbstverantwortung eingeübt werden. Ganz neu ist der Versuch, Elternarbeit mit Hilfe von EP zu intensivieren.

EP ist im Haus Aichhorn in vielfacher Weise vorhanden: Reiten, Zirkus, Kajakfahren, Skifahren, Klettern, Wandern, Selbstversorgung, MTB u.v.m. in Form von Nachmittags- oder Wochenendangeboten und in Form der gemeinsamen Freizeiten: Skifreizeit in der Jugendherberge, Kanufreizeit im französischen Jura, Sommerlager im Ötztal und Wanderritte mit Planwagen.

Eine "gewisse" Freiwilligkeit ist vorhanden, da sich die Jugendlichen für dieses Heim und seinen ep Ansatz entschieden haben. Ansonsten sind die Freizeiten ein Programm, an dem erst einmal alle unhinterfragt teilnehmen, denn es gilt der Leitspruch: "Fördern durch Fordern".

Bei den ep Angeboten darf durchaus der "Kick" dabeisein, nur eben nicht der kurze, schnelle. Mit Geduld eine Sache angehen und dadurch erfolgreich sein ist Leitidee, exemplarisch in der Arbeit mit Pferden nachvollziehbar. Die Jugendlichen nähern sich langsam an, übernehmen Fütterungs- und Pflegearbeiten, bauen eine Beziehung auf, erhalten Reitunterricht und können, falls sie die Reiterprüfung abgelegt haben, Ausritte unternehmen.

Durch das Erlernen von Geduld und Konzentration erhofft man sich einen Transfer auch in den Schulbereich. Viele Schwierigkeiten dort ließen sich mit einem Mehr dieser beiden Fähigkeiten in den Griff bekommen. Darüber hinaus soll durch EP das Zutrauen gestärkt und ein positives Selbstbild erzeugt werden. Bei allen Freizeiten gibt es tägliche Gruppenreflexionen. Die PädagogInnen des Heims veranstalten diese Freizeiten selber und haben so die Möglichkeit das Erlebte immer wieder aufzugreifen und lebendig zu halten; oft findet dies in Einzelgesprächen statt.

Einzelne Pädagogen haben teils langjährige Erfahrungen in verschiedenen Natursportarten. Fortbildungen in diesem Bereich werden von der Heimleitung (auch finanziell) unterstützt.

Dadurch, dass immer wieder neue Jungen ins Heim kommen, entsteht eine Gruppe mit sehr unterschiedlichen Fertigkeiten im Bereich von ep Aktivitäten. Dies wird aufgegriffen, indem die "Alten" bestimmte Aufgaben eigenverantwortlich übernehmen, nachdem sie zuvor einschlägige Kompetenzen ausgebildet haben. So tragen Heterogenität und Differenzierung zur Selbstständigkeitserziehung bei.

Nicht alle Unternehmungen sind gleichermaßen beliebt: So wurde das Ötztal, wo die Jugendlichen jeglichem Luxus entbehren und strapaziöse Bergtouren unternehmen, in "Ätztal" umgetauft. Doch obwohl bei dieser Freizeit die Teilnahme, außer für "Neue", freiwillig ist, sind immer genügend Jugendliche im "Ätztal" dabei.

Da die Pflegesätze nicht voll zur Finanzierung ausreichen, werden neben den Jugendamtszuschüssen für solche Fahrten eigene Einnahmen mit eingesetzt: Gewinne aus der "Schlamperkiste", in die alles Vergessene und Liegengelassene kommt und für 40 Pfennig wieder ausgelöst werden kann, Einnahmen, die bei öffentlichen Auftritten der Zirkusgruppe und beim Stadtfest erzielt werden und solche aus dem gemeinnützigen Förderverein, der über das Amtsgericht mit Bußgeldern versorgt wird.

Das Personal erhält für die Fahrten Freizeitausgleich, wobei eine Arbeitszeit von 10 Stunden pro Tag zugrunde gelegt wird.

Die Elternarbeit von Haus Aichhorn hat einen hohen Stellenwert. Dieses Jahr an Pfingsten wurde ein Experiment gewagt: Eine erlebnispädagogische Fahrt ins französische Jura gemeinsam mit Eltern. 10 Elternteile von 6 der 18 Jungen konnten gewonnen werden. Es hat eine intensive Vorbereitungsphase gegeben, in der Eltern wie Jugendliche ihre Zweifel und die Chancen benannten, die eine solche Unternehmung beinhaltet. Die Fahrt dauerte 8 Tage, wovon 4 gemeinsam mit den Eltern verbracht wurden. Für die Aktionseinheiten wurde die Gruppe gedrittelt und es gab unterschiedliche Angebote: Kanu/Kajak, Schluchtwanderung/Canyoning, Höhlenbefahrung/-erforschung und Mountainbiketouren. Diese 4 Tage verliefen in einem "ungewohnt harmonischen Kontext"; die Jungen präsentierten sich und die Einrichtung von der besten Seite. Als Ausgleich musste in den beiden Tagen nach der Elternabreise erst einmal kräftig Dampf abgelassen werden, um wieder die "Normalität" zurückzuerlangen. Keine spürbaren Probleme gab es mit der Tatsache, dass nicht alle Jungen ihre Eltern dabei hatten.

So haben sich andere und neue Kontaktmöglichkeiten zwischen Eltern und Söhnen ergeben, "nicht immer nur Konflikt". Dennoch wurde kein unrealistisch harmonisierendes Schauspiel inszeniert. Die Jugendlichen achteten bisweilen sehr darauf, nicht zuviel mit den Eltern zu unternehmen, ihre eigenen Bereiche zu wahren.

Heimleiter Nischak äußert die Hoffnung, dass solche Outdoor-Aktivitäten von Eltern und Jugendlichen auch außerhalb der organisierten Veranstaltung genutzt werden, um gemeinsam etwas zu unternehmen. Hier wurden intensive Erfahrungen von Gemeinsamkeit gemacht und sich als Akteure wahrgenommen, die selber bestimmen, wie "weit" man gehen will – eben anders als im Europapark in Rust, wo ja auch "erlebt" wird.

Der Aufwand war enorm, aber er hat sich gelohnt. Deshalb soll das Experiment fortgesetzt werden. Diesmal haben die Eltern teilgenommen, die recht deutlich hinter der Einrichtung und ihren Ideen stehen. Wie kann man weitere Eltern einbeziehen, wo werden die Schwierigkeiten so groß, dass die ganze Unternehmung zu platzen droht? Um diese und weitere Fragen möglichst konkret zu klären, ist geplant, in der Vorbereitungsphase einer neuen Fahrt ein gemeinsames Probewochenende zu veranstalten, nachdem dann alle Beteiligten die Möglichkeit haben, eine Entscheidung zu fällen oder gar ein Veto einzulegen.

Marc ist erst seit einem halben Jahr in Haus Aichhorn und war auch mit dabei. Mit seiner Mutter und seinem Stiefvater fuhr er im Kanadier: "Da kam es darauf an, dass die Koordination klappt" und die hat er als "Experte" in Sachen Kanadier selbst übernommen. Aber dann hat es erst einmal gelangt und er wollte allein in einem Kajak fahren. Bei der Schluchtwanderung da war er "schon fast am Limit". Sein Stiefvater hatte noch reichlich Reserve – soviel Kraft wünscht er sich auch für sich selber. Er hätte nie gedacht, dass seine "Eltern" soviel mitmachen, besonders nicht seine Mutter.

Von EP-Touren allgemein findet er, dass das immer so eine "Neuentdeckung von sich selbst" ist, man kann "sich selber erforschen". Er hat z.B. gelernt, dass man "manche Sachen langsamer machen" muss, dass man "genauer hinschauen muss, wo man hintritt". Die Folgen, wenn man das nicht tut, merkt man gleich, in der Tour, "wenn du auf dich allein gestellt bist". Das ist nicht vergleichbar damit, wenn man sein Zimmer nicht ordentlich gefegt hat.

EP ist für ihn Entspannung, "dass man nicht immer an den Stress denkt, den man hat", da kann man abschalten, sich auspowern .Marc hat auch mit dem Reiten begonnen: "Da muss man auch den Rhythmus finden zum Mitschwingen, sich voll konzentrieren und nicht aufgeben, wenn man abgeschmissen wird, sondern wieder aufsteigen".

Er hat sich beim Baumklettern die Latte ordentlich hoch gelegt: Er hat die Seilsicherung abgebaut und sich beim Runterklettern mit Schlingen selbst gesichert; er ist sichtlich stolz auf diese Leistung. Und die Schürfwunden, die ihm die Baumaktion beigebracht hat? "Das war es wert".

In Haus Aichhorn muss man sich eher in die Gruppe einfügen, als dass die Gruppe auf einen zukommt. Bei einer Schluchtwanderung hingegen ist es egal, wer wen leiden kann: "Egal wer es ist, man hilft sich weiter; da hat auch jeder Verständnis, wenn man mal Angst hat".

Die Sozialpädagogin berichtet, dass viele Jugendliche, die nach Haus Aichhorn kommen, in anderen Heimen bereits gescheitert sind. Hier wird ihnen noch mal eine Chance geboten: Innerhalb klarer und berechenbarer Grenzen, welche bei Übertretung mit einem genau abgesteckten Strafenkatalog sanktioniert werden, wird ein Programm geboten, welches die Jugendlichen fordert und herausfordert, in dem Grenzerfahrung und –überschreitung möglich und gewünscht ist.

Eigene Gestaltungsimpulse kommen von den Jungen wenig, "vielleicht weil das Angebot ausreichend ist".
 
 
 

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2.2.3. Von der Keimzelle zum Konzept
(Th. Rittmeyer, Martinshaus Kleintobel)

2.2.1 Handlungsorientierung (Manfred Aberle, Waldhaus Hildrizhausen)
2.2.2 Eltern (Sigmund Nieschak, Marc, Haus Aichhorn Dornhahn)
2.2.3 Von der Keimzelle zum Konzept (Th. Rittmeyer, Martinshaus Kleintobel)
2.2.4 Schule - Jugendhilfe (J. Mall, Christopherus Jugendwerk Oberrimsingen)

Abbildung 12

In den Gesprächen ist deutlich geworden, dass der Stellenwert von EP-Veranstaltungen in der jeweiligen Institution stark differiert. Ein ausgearbeitetes und differenziertes Konzept ist in Schulen eine Ausnahme, in der Jugendhilfe die Regel.

Das Kapitel, bzw. das Interview mit Thomas Rittmeyer wird an dieser Stelle nicht weiterhin veröffentlicht, da es zuMissverständnissen führte.
 
 

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2.2.4. Schule - Jugendhilfe
(J. Mall, Christopherus Jugendwerk Oberrimsingen)

2.2.1 Handlungsorientierung (Manfred Aberle, Waldhaus Hildrizhausen)
2.2.2 Eltern (Sigmund Nieschak, Marc, Haus Aichhorn Dornhahn)
2.2.3 Von der Keimzelle zum Konzept (Th. Rittmeyer, Martinshaus Kleintobel)
2.2.4 Schule - Jugendhilfe (J. Mall, Christopherus Jugendwerk Oberrimsingen)

Abbildung 13

Die Anbindung einer (privaten) Schule für Erziehungshilfe an eine Jugendhilfeeinrichtung ist in Baden-Württemberg oft anzutreffen. Dass jedoch zwischen SozialpädagogInnen und LehrerInnen ein tiefer Graben verläuft, ist in mehreren Gesprächen deutlich geworden. Während von Lehrerseite (Herrmann) die uneffektive Arbeit der SozialpädagogInnen bemängelt wird, so werden umgekehrt seitens der Sozialpädagogik (Rittmeyer; Mall ) die Starrheit und Bequemlichkeit von LehrerInnen kritisiert.

Obwohl sich alle darüber einig sind, dass solche Gräben kontraproduktiv sind und eine Kooperation wünschenswert, scheint es schwierig zu sein Konzepte zu entwickeln, die hier Abhilfe schaffen.

Bei solchen Konzepten wird es, stärker als bisher, nötig sein, die unterschiedlichen Perspektiven, Ziele und Aufgabenfelder in einem gemeinsamen Konzept (nicht nur der EP) klarzustellen und so die Grundlage für eine wirkliche Kooperation zu schaffen. Herr Stöppler hat dies ja deutlich formuliert.

Wie die Leitung einer Jugendhilfeeinrichtung mit Schule gezielte Impulse für eine Profilierung in Richtung EP setzen kann, demonstriert das Beispiel des Christopherus-Jugendwerkes im Breisgau. Dass dies nicht auf Kosten anderer Bereiche gehen muss, sondern, zumindest in der längerfristigen Planung, kostenneutral, ist ein weiterer Aspekt. Wie schon im Falle des Martinshauses , handelt es sich hier um professionelles Spezialistentum, nicht nur im Tun, sondern v.a. im Organisieren und Konzeptualisieren, weshalb an dieser Stelle das Thema Erfolg und Wirkung von EP angerissen werden soll.

"Schulen brauchen Motivation und Unterstützung von außen, deshalb bieten wir Erlebnispädagogik als abrufbare Dienstleistung an."

Mein Gesprächspartner ist Jürgen Mall vom Christopherus-Jugendwerk in Oberrimsingen, einer Jugendhilfeeinrichtung der Caritas mit Schule. Ca. 65 junge Menschen werden dort in verschiedenen Wohnformen betreut, 7 Ausbildungsberufe werden in eigenen Werkstätten angeboten, die Schule hat einen Förder- und einen Hauptschulzweig sowie BVJ.

Ich komme auf das Gelände, das am Rande des Dorfes liegt und registriere, dass ich in einer "Großeinrichtung", in einem "Sozialkonzern" angekommen bin. Das Büro von Herrn Mall liegt in der ersten Etage des Verwaltungsgebäudes. Vorbei an Konferenzräumen und Büros finde ich ihn in seinem ordentlichen Büro. An den Wänden finden sich Fotodokumentationen verschiedener ep Aktionen. Auf dem Boden steht eine Bücherkiste mit aktueller ep Literatur, wohl ein Überbleibsel der letzten Fortbildungsveranstaltung. Herr Mall passt gut in sein Büro. Mit Hemd und Stoffhose bekleidet, unterstreicht er seine Abhebung vom klassischen Sozialarbeiterimage. Er ist Dipl. Sozialpädagoge (FH) und betont die Professionalität; die aktuellen Vokabeln eines modernen Sozialmanagements fließen ihm leicht über die Lippen: Qualitätsmanagement, Outsourcing, Fremdmitteleinwerbung... .

Die Stelle die Herr Mall besetzt, war der Grund für meine Reise zu ihm: Es ist eine Stabsstelle der Gesamtleitung mit dem Zweig Erlebnispädagogik. Es werden ep Dienstleistungen für Heim und Schule sowie für Auswärtige angeboten, Material, Geld, Logistik und Personal wird zur Verfügung gestellt.

EP ist im Jugendwerk unter dem Titel "Inseln schaffen" konzeptionell verankert. Ich interessiere mich hierbei v.a. für die schulischen Aspekte. Die Inseln finden regelmäßig mindestens einen Tag im Jahr in jeder Klasse in Form von Wintersporttagen statt, sind aber darüber hinaus ein jederzeit abrufbares Programm. Dies umfasst die klassischen Bereiche der Natursportarten wie Klettern, Paddeln, MTB aber auch Schwimmen und die Nutzung von Sporthalle und Ballspielplätzen. Die Unterstützung kann sich auf die Bereitstellung von Material und Räumlichkeiten beschränken oder auch ein komplettes Programm mit speziell ep qualifiziertem Personal beinhalten.

Die konzeptionelle Festschreibung erfolgt darüber hinaus auf verschiedenen Ebenen:

Ohne diese Motivation und Unterstützung von außerhalb, würde in der Schule in Sachen EP nicht viel passieren. So sind es vor allem SchülerInnen, die die Angebote einfordern. Bei Fortbildungsveranstaltungen für LehrerInnen fällt es auf, dass ein sehr vorsichtiges und zurückhaltendes Verhalten an den Tag gelegt wird, gelegentlich auch generelle Verweigerungshaltungen.

Der Schule steht zur Durchführung von EP-Aktivitäten ein "Inselbudget" von ca. DM 5000.- für Sachmittel zur Verfügung, wovon allein die Wintersporttage etwa die Hälfte verschlingen. Meine Frage: "Ist Skifahren für Jugendliche, die auch in Zukunft mit wenig Geld auskommen müssen, ein angemessenes, weil nachbildbares, selbstgestaltbares Angebot?" trifft einen wunden Punkt. "Ja, Unbedingt!", denn Herr Mall will gerade diese Jugendlichen nicht von einem so prestigeträchtigen gesellschaftlichen Bereich ausschließen.

Die Stelle wurde als Dienstleistungsfunktion im Bereich Organisation, Durchführung und Weiterentwicklung von EP-Aktivitäten konzipiert. Etwa 15 – 20% seiner Arbeitszeit investiert er in die Schule (6 Klassen, davon 2 BVJ, 15 LehrerInnen).

Die Einrichtung der Stelle wurde vom Jugendwerk vorfinanziert, soll sich jedoch selber tragen. Vorgabe ist beispielsweise, 25% der Kosten durch Einnahmen aus dem Seilgarten als Profit-Bereich zu decken. Während der ersten 5 Jahre werden ca. 25% der Arbeitszeit zur Fremdmitteleinwerbung veranschlagt. Ein weiterer gewinnbringender Bereich ist die Ausrichtung von Kursen zur Qualifizierung als Erlebnispädagoge bzw. "Rope-Course-Trainer".
 

Themawechsel:

"Die Erfolge, die wir haben, sind zu 50% ungeplant."

Es gehört zu einer professionellen EP, dass geplant, gezielt durchgeführt und ausgewertet wird. Aber gerade der Beziehungsbereich lässt sich nur sehr begrenzt planen und vorhersagen, wenn z.B. der beim Paddeln gekenterte Jugendliche ausgerechnet von seinem ärgsten Feind aus dem Wasser gezogen wird – in solchen Momenten passiert viel.

"Der Plan ist der Anspruch, Professionalität ist, ihn nicht zu benutzen." So gut und hilfreich z.B. die Beschreibung von Archetypen ep Aktionen (vgl. Bacon 1998) oder das Entwerfen eines Berufsbildes des professionellen Erlebnispädagogen sind, vor Verallgemeinerungen muss hier eindringlich gewarnt werden, denn sonst geht der Blick, die Wahrnehmung für die "kleinen Dinge", in denen oft das Wichtige passiert, verloren; auch die Fähigkeit "die Berge überhaupt zu hören" kann verloren gehen. Wenn ein Jugendlicher sagt: "So einen geilen Tag wie heute habe ich in den letzten 14 Jahren nicht erlebt", dann war dies nicht unbedingt vorhersehbar und doch wurde es ermöglicht durch den "Kasten", der mit ep Handwerkszeug vollgestopft ist und in den im Übrigen auch eine ordentliche Portion "Herzblut" hineingehört.

Das Thema Reflexion ist Herrn Mall "zuwider", weil immer nur polar diskutiert wird. Die Wirksamkeit von EP beruht vielmehr auf drei Säulen; wie stark was ausgeprägt ist, hängt von den Situationen ab:

Zum Einen ist da die "Sprache der Berge", "und wenn die Berge laut sind, dann muss man halt die Klappe halten". Diesen ersten Bereich kann nur leugnen, wer den Unterschied einer Seilbrücke in einer Turnhalle und über einen Wasserfall eines Gebirgsbaches nicht erlebt hat.

Zum Zweiten geht es um das Herstellen von Isomorphien, um die Strukturierung einer EP-Situation entsprechend einer zu bearbeitenden Situation des Alltags, also um einen durchdachten, geplanten Einsatz bestimmter Aktionen mit entsprechend bewusster Kommentierung zu einem bestimmten Zweck.

Zum Dritten die Reflexion, der Austausch darüber, was tatsächlich abgelaufen ist, was sich im Inneren bewegt hat und welche Konsequenzen daraus gezogen werden können.

Erst die Kombination dieser drei Bereiche macht EP wirksam, vorausgesetzt man beachtet das Gesagte zum Plan und den "kleinen" Dingen.

Das Ziel jeder EP-Aktion ist klar und der Rahmen ist fest und starr: Erfolge schaffen! Erfolg heißt nicht unbedingt z.B. ein Floß gebaut zu haben, es kann auch die erfolgreiche Einsicht in den Ist-Zustand der Gruppe sein. Was aber der Erfolg sein soll, das muss ich vorher wissen. Wie die Gruppe dorthin gelangt, dafür gibt es unendlich viele Möglichkeiten, wobei auch eine stellenweise enge Führung nicht immer die schlechteste sein muss.

Offenheit in der EP bezieht sich also auf die Wege, nicht auf die Ziele, die auch besser nicht zu hoch gehängt werden sollten. Wenn sich z.B. Schüler auf solche Aktionen freuen, wenn sie ihre LehrerInnen gezielt zur Durchführung solcher Aktivitäten auffordern - wenn sie also fordern, gefordert zu werden - zeigt dies eine starke Motivation, dann ist schon viel erreicht.

Es gibt moderne psychologische Erklärungen über die Wirkung von Erfolgen, aber sie besagen im Kern nichts anderes als das, was Hermann Hesse vor 100 Jahren beschrieben hat: Ein Plus über das Meer der Traurigkeit setzen

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