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0. Einleitung
0.1. Zielsetzung und Aufbau
 0.2. Einführung

Ziel dieser Arbeit ist, Vorschläge zur Einbindung erlebnispädagogischer (ep) Inhalte in Konzeption und Praxis der Hannah-Arendt-Schule, einer staatlich anerkannten Schule für Erziehungshilfe in privater Trägerschaft in Iznang (Landkreis Konstanz) vorzulegen.

In einem ersten Schritt wird unter den Stichworten Wandel und Trends - Erlebnispädagogik an Sonderschulen  anhand zweier Interviews ein Überblick hergestellt, der es der LeserIn erleichtern soll, die Gestaltung erlebnispädagogisch orientierter Lehr- und Lernarrangements im Kontext von Entwicklungen und Strömungen der Sonderpädagogik Baden Württembergs zu beurteilen.

Im zweiten Kapitel werden unter verschiedenen Gesichtspunkten die Ergebnisse aus zehn Gesprächen dargestellt, welche ich mit Praktikern aus Schule und Jugendhilfe geführt habe. So erhält die LeserIn einen Rundblick über die Praxis von EP-Projekten in Baden-Württemberg. Im Hintergrund stand bei allen Gesprächen für mich immer die Frage: Was kann die Hannah-Arendt-Schule von diesen Projekten lernen?

Das dritte Kapitel enthält allgemeinere Überlegungen dazu, was eine Erlebnisorientierte (Sonder-) Schule sein kann, welche Aufgaben sie zu erfüllen hat und welcher Umsetzungsformen sie sich bedienen kann.

Im vierten Kapitel geht es dann um die Hannah-Arendt-Schule. Es erfolgt eine Bestandsaufnahme, die sich, neben einer Darstellung der wichtigen Daten und Fakten, schwerpunktmäßig der Sicht des pädagogischen Personals zuwendet. Die Auswertung eines Fragebogens und von Arbeitsgruppenergebnissen zeichnen eine Momentaufnahme der Situation im Kollegium. In diesem Sinne habe ich die Schule ein kurzes Stück auf ihrem Prozess der Profilbildung begleitet, meine Arbeit wirkte dabei durchaus als Katalysator. Die anschließend von mir entwickelten Vorschläge sollen ebenfalls diesem Prozess zugute kommen, so dass ich sie als Diskussionsanregung und Entscheidungshilfe verstehe.

Die Arbeit nimmt also ihren Ausgangspunkt in der Praxis und führt über theoretische Überlegungen wieder zur Praxis, denn wenn man mit einem Theorieteil beginnt, besteht allzu leicht die Gefahr bei Adam (Kurt Hahn) oder gar bei Unendlich (z.B. Plato) zu beginnen, sich nach und nach in die Niederungen erlebnispädagogischer Praxis herunterzuarbeiten, um dann die schulspezifischen Möglichkeiten allgemein auszuloten. Ist man am Ende bei der Hannah-Arendt-Schule angelangt, stellt man traurig fest, dass der Relevanzfaktor des zuvor Erörterten für das konkrete Arbeitsfeld bei etwa 2,47% liegt, und die wirklich spannenden Fragen aus Zeit- und Platzgründen nicht mehr behandelt werden können.

Um diesem Dilemma wenigstens teilweise zu entkommen habe ich die Reihenfolge so gestaltet, dass am Anfang die Frage steht: what happens? – wie machen es andere? um davon ausgehend direkt zu den (hoffentlich) relevanten Themen zu kommen.

Diese Arbeit nimmt Ansichten, Einschätzungen und die Praxis von PädagogInnen zum Ausgangspunkt. Man mag bemängeln, dass die Perspektiven von Jugendlichen allenfalls indirekt thematisiert werden. Da eine Arbeit aber nicht alles leisten kann, habe ich einen Schwerpunkt gesetzt, was nicht heißen soll, dass mich die Sichtweisen von Jugendlichen nicht interessieren würden. Ganz im Gegenteil würde ich mir mehr fundierte Beiträge zu diesem Thema wünschen.

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0.2. Einführung
Arbeiten und Veröffentlichungen zum Thema Erlebnispädagogik (EP) gibt es schon in großer Zahl. Ich will daher versuchen, die Leserschaft nicht mit der Reproduktion von Altbekanntem zu langweilen, sondern mich auf das zu konzentrieren, was mir für das Ziel der Arbeit nützlich und gewinnbringend erscheint.

Ich gehe dabei davon aus, dass die LeserIn Veröffentlichungen zur Erlebnispädagogik kennt und so bereits in das Thema eingeführt ist. Als Einführung für Laien könnte z.B. das kleine Büchlein von Anette Reiners (1995): "Erlebnis und Pädagogik" dienen oder der "Klassiker" von Heckmair, Michl (1998): "Erleben und Lernen". Stärker auf die Schule bezogen, wäre noch der Aufsatz von Rüdiger Gilsdorf "Aufbruch ins Ungewisse - Grundzüge eines erlebnispädagogischen Konzepts" zu nennen, erschienen im von ihm und Kathi Volkert (1999) herausgegebenen Buch: "Abenteuer Schule". Es gibt ansonsten einige Aufsatzsammlungen und Tagungsdokumentationen, die aus unterschiedlichen Perspektiven und durchaus kritisch das Themenfeld EP bearbeiten. (z.B.: Bedacht u.A. 1992, Homfeldt 1993, Kölsch 1995, Heckmair u.A. 1995, Paffrath 1998)

Ich möchte dennoch vorab kurz mein Verständnis von EP skizzieren. Wenn in dieser Arbeit vom Erlebnis, von Erlebnispädagogik, von Erlebnisorientierung gesprochen wird, so impliziere ich eine spezifische Auslegung, v. a. geht es mir um "besondere, herausgehobene, strapaziöse, bisweilen riskante Unternehmungen" (Thiersch 1993, S. 39), um "natursportliche Bewegungserlebnisse mit dem "Kick des Abenteuers"" (albErgo o.J., a). Ob solche Aktionen unbedingt ein "Grenzerlebnis" enthalten müssen, wie vielfach zu hören, oder ob es auch reicht, dass "eine Schwierigkeit eingebaut (ist), ein Hindernis, ein sich Überwinden, eine schwierige Gruppenaufgabe, die es zu bewältigen gilt" wie Güntner (1994 a, S.31) dies formuliert, lasse ich für mich unbeantwortet. Auf jeden Fall sind EP-Aktionen für mich weit jenseits von Langeweile, wie aber auch von Action-Konsum angesiedelt.

EP in dem von mir benutzten Sinne ist in mehrfacher Hinsicht dialektisch zu verstehen. So sieht Thiersch in Abenteuer-/Erlebnispädagogik"in sich durchaus prekäre Lebensformen" (Thiersch 1993, S.43). EP steht in einem Spannungsverhältnis, dessen einer Pol von Schiedeck und Stahlmann (1994) als die "gegenmoderne" Variante benannt wird – sie beziehen sich dabei explizit auf Ulrich Beck - der andere als die "ästhetische" (ebd. S.397).

Die "gegenmoderne" Variante habe demnach kulturkritische Ursprünge und gehe auf Annahmen der Lebensphilosophie zurück, bei der Intuition und Erleben und nicht der Verstand zu Erkenntnis führe. Diese Form des Erlebnisbegriffes beinhalte die Gefahr einer "Naturalisierung und Mythologisierung von Pädagogik", stehe in der "verhängnisvollen Tradition des Irrationalismus" und erfülle daher eine "antiaufklärerische Funktion" (Schiedeck/Stahlmann 1994, S.399ff).

Thiersch beschreibt als eine Funktion des Abenteuers in der modernen Gesellschaft die Kompensation von Vergesellschaftungstendenzen, die sich ausdrückt im "Drang zum Ausbruch in ein unmittelbares, ganzheitlich-authentisches Leben" sowie im "Drang nach einem Raum, in dem der Mensch sich als zuständig für die Gestaltung seines Lebens erfährt". Dies könne jedoch auch bedeuten "Widersprüche unserer Gesellschaft nicht als Widersprüche zu sehen, um sie im Spiel kompensatorischer Erfahrungen auszuhalten, sondern ihnen auszuweichen: Abenteuer als Flucht". Es könne sich zudem erschöpfen in einem "dezidiert männlichen Lebensentwurf" und einer Ablehnung alles "nur Vermittelten". "Von hier zu einer antidemokratischen Attitude ist es nicht weit" (Thiersch 1993, S.42f).

Der andere Pol, die "ästhetische" Variante setze auf "Lebenswelt- und Alltagsnähe" und versuche so, Anschluss an scheinbar pädagogisch nicht erreichbare Kinder und Jugendliche zu erreichen. Hier stehe das subjektive Erleben im Mittelpunkt, als Reaktion auf eine innenorientierte Lebensauffassung im Sinne Schulzes (1992). "Erlebnisse werden in immer ausgefeilteren Arrangements ausschließlich dazu inszeniert, um in Subjekten Zustände von Zufriedenheit, Befriedigung und Erregung zu erzeugen." Solche Erlebnisse seien aber "leere Erlebnisse, die ihr "Geheimnis" verloren haben", die Grenzen zwischen Pädagogik und Unterhaltung drohen zusehends zu verschwimmen (Schiedeck/Stahlmann 1994, S.401f).

Erlebnis scheint ein schwieriger Begriff zu sein, da er so Unterschiedliches beinhaltet: das "leere Erlebnis" ohne Geheimnis mag die moderne Gesellschaft, die "Erlebnisgesellschaft" kennzeichnen, nicht aber das Erlebnis der EP: "Es ist die Aufgabe der Erlebnispädagogik, dem Leben das Geheimnis, das in der Moderne zu entschwinden droht, wieder zurückzugeben" (Ulf Händel 1995, S.8)

Bei Thiersch liest sich denn auch die o.g. zweite Variante weniger negativ: "Wenn nicht die Erfüllung vorgegebener Lebensmuster Lebenssinn bedeutet, gewinnen je eigene, individuelle und besondere Erfahrungen besonderes Gewicht. ...ich vergewissere mich meiner selbst im besonderen Erlebnis, in der Intensität des Erlebens. ... Die besondere Form Abenteuer ... wird zu einem charakteristischen Moment der Lebensgestaltung in der Moderne." (Thiersch 1993, S.43)

Ein weiteres Spannungsfeld tut sich da auf, wo Anschluss an Erlebnis- und Abenteuerwelten von Jugendlichen gesucht wird. Kann dies nicht auch als Versuch der Kolonisierung der letzten nicht pädagogisch durchdrungenen Lebensfelder gesehen werden? (vgl. Zacharias 1995). Ganz grundsätzliche Zweifel hegt Jürgen Oelkers (1992), denn seiner Meinung nach entzieht sich das Erlebnis der pädagogischen Verfügbarkeit. Das Gegenteil würde hierzulande wohl auch niemand ernsthaft behaupten, anders mag das in den USA sein, wo in behavioristischer Tradition bisweilen fast lineare Zuordnungen vorgenommen werden. Dazu ausführlich nochmals Thiersch: "Pädagogik - wenn ich dies zunächst so allgemein formulieren darf - meint ja nicht Verfügung über Erfahrungen und Lernprozesse bei anderen, sondern Unterstützung, Anregung und Provokation, die aufgenommen, verarbeitet, angeeignet werden müssen. Und: Indirekte Pädagogik als Gestaltung von Räumen, von Gelegenheiten und Chancen zu sinnvollen Erfahrungen war schon immer eines der zentralen Momente einer die Freiheit und Eigensinnigkeit von Heranwachsenden respektierenden Pädagogik ... - Ein solches pädagogisches Selbstverständnis wird durch die neuere gesellschaftliche Entwicklung nur gestützt: Im Zeichen von Pluralisierung und Individualisierung der Lebensführung und der darin liegenden Selbständigkeit und Eigenwilligkeit von Heranwachsenden wird Pädagogik auch zunehmend indirekt: Sie vermittelt Situationen und Gelegenheiten, sie arrangiert Projekte mit offenem Ausgang, sie organisiert Ressourcen und stützt durch Beratung (stellvertretende Deutung). Darauf aber zielen ja gerade pädagogische Arrangements in der Abenteuer-/ Erlebnispädagogik; sie entspricht - so könnte man keck formulieren, spezifischen Möglichkeiten einer modernen Pädagogik in besonderer Weise." Die Verbindung dieser Indirektheit mit pädagogischer Verbindlichkeit und Verlässlichkeit hat zur Folge, dass solche Inszenierungen immer eine "heikle Balance zwischen Arrangement und Offenheit des Risikos, zwischen Planung und Wagnis" bleiben (Thiersch 1993, S. 46).

Eine solche indirekte Pädagogik zielt eben auch auf die Veränderung von Strukturen. Koch und Vieth (1994) fordern daher, dass zur Verpflichtung von Jugendhilfe auch "die Schaffung einer experimentierfreudigen, abenteuer angereicherten Infrastruktur im Stadtteil, im Nahumfeld der öffentlichen Institutionen (Schulen, Heime etc.)" gehören muss. Das bedeutet auch "Anleitungen zu geben, öffentliche Räume wiederzuerobern, sie umzufunktionieren, aber auch neue Räume zur Auseinandersetzung für Kinder und Jugendliche zu erschließen" (ebd. S.35). Die Autoren sprechen sich daher auch für eine Verlagerung von "erlebnisangereicherten Angeboten" weg von fernen, exotischen Zielen in der wilden Natur, hin zu einer Einbettung in das Lebensumfeld von Jugendlichen.

Aber auch hier wird nur wieder ein neues Spannungsfeld aufgezeigt, welches nicht einseitig in Richtung Alltagseinbettung aufgelöst werden sollte, da Erlebnisse die sich in besonderer Weise aus dem Alltag herausheben auch die Chance bieten, dass "hier im besonderen Feld Erfahrungen möglich werden, die in den Verstrickungen des Alltags nicht möglich sind", wenngleich dies auch einhergeht "mit der Gefahr, daß diese Erfahrungen nicht mehr zurückgebunden werden in den Alltag" (Thiersch 1993, S. 50). Letzterer Punkt ist bisweilen DAS Standardargument gegen EP. Hierzu wäre neben aller berechtigter Kritik im Sinne einer Verbesserung des Transfers (vgl. Bühler 1986) zu bemerken, dass, wenn man ähnlich strenge Maßstäbe an schulisches Wirken stellen würde, dies die umgehende Abschaffung des hiesigen Schulsystems zur Folge haben müsste. Thiersch sieht daher auch noch andere Gründe, die zu einer solchen Kritik führen könnten: "Ich gestehe, daß ich bisweilen denke, daß sich in den Erwartungen auf Brauchbarkeit, Nützlichkeit und Übertragbarkeit dem Abenteuer gegenüber nur jene Angst des professionellen Pädagogen verrät, die sich so oft vor dem Riskanten, Besonderen und Ausgesetzten zeigt" (Thiersch 1993, S. 51).

Es ließen sich noch einige weitere heikle Felder benennen, wie z.B. EP und die Geschlechterfrage, Naturnutz und Naturschutz oder EP in der Großstadt (City-Bound). Es kann aber generell nicht darum gehen DEN richtigen Weg gefunden zu haben, sondern sich der Dialektik, ihrer Chancen wie ihrer Grenzen und Gefahren bewusst zu sein, um vor diesem Hintergrund die eigene Praxis und Theorie zu reflektieren und weiterzuentwickeln, dabei lauert ständig die einseitige Auflösung der Widersprüchlichkeit als Gefahr, weshalb institutionalisierte Formen von Reflexion und Kontrolle unabdingbar sind.

In diesem Sinne wäre"eine verläßliche Dokumentation, ein sorgfältiger Vergleich zwischen solchen Projekten wohl weiterführend – wenn sie denn sorgfältig dokumentiert und öffentlich zugänglich gemacht und nicht nur als Erfolgsbericht stilisiert würde." (Mollenhauer/Uhlendorff 1992, S.16), denn nur allzu oft lesen sich entsprechende "Prospekte und Berichte ... wie Nachrichten aus einer neuen Abteilung der Erziehung als moralische Anstalt, wie Berichte von einem Königsweg moralischer Erziehung" (Thiersch 1993, S.51). Vermutlich ist dies aber auch einem weiteren Spannungsfeld geschuldet, dass nämlich EP-Angebote zwar pädagogische sind, sich aber nicht auf der gleichen Abgesichertheit ausruhen können, der sich unser sonstiges Bildungsystem erfreut. Vielmehr müssen sie sich auf einem freien Markt behaupten und verkaufen. Die Gesetze von Marketing mit den zugehörigen Publikationen sind anders gelagert als die einer wissenschaftlichen Gemeinde und ihren Vorstellungen von Publikationen.

Zentrale Ziele erlebnispädagogischer Inszenierungen möchte ich vorab bereits kurz mit folgenden Stichworten skizzieren.

Wenn in dieser Arbeit bisweilen Theorie und Praxis der EP kritisch beleuchtet werden, so möchte ich damit nicht die Erlebnispädagogik im Ganzen abwerten, sondern darlegen, wie und mit welchen Begründungen sie qualifiziert in das Curriculum einer Schule eingebaut werden kann. Ich selbst habe in meiner praktischen Tätigkeit bei albErgo e.V. in Trochtelfingen, zunächst als Praktikant und nunmehr als freier Mitarbeiter, die besonderen Möglichkeiten von Erlebnispädagogik gerade im Hinblick auf als schwierig geltende Jugendliche schätzen gelernt und halte sie für eine außerordentlich wirksame Ergänzung anderer pädagogischer Inszenierungen.

Genug der Vorrede, die Praktiker sollen zu Wort kommen.

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